Kultur
„Fliehen macht glücklich“
„Erlebte Geschichte – erzählt“ mit Wilhelm Genazino im Literaturtage-Spiegelzelt
„Fliehen macht immer glücklich“, sagt Wilhelm Genazino und hat schlagartig ein heiter zustimmendes Publikum auf seiner Seite. Das Nebeneinander von Melancholie und Freude und zeitweiser Flucht vom einen ins andere, ist Thema des Schriftstellers. Nicht nur in seinen Romanen. Auch im Gespräch mit Michael Buselmeier bei den Literaturtagen.
Genazino, 1943 in Mannheim geboren, zeitweise Wahl-Heidelberger, heute Frankfurter, zerstreut zunächst das Gerücht, sein Gesprächspartner Buselmeier habe ihn seinerzeit „aus Heidelberg weggebissen“. In Heidelberg, erzählt er, sei er bereits als Mannheimer Jungredakteur der Rhein-Neckar-Zeitung gewesen. Ebenfalls als Jungschriftsteller, der mit seinen ersten lyrischen Gehversuchen in Arnfrid Astel eine „wunderbare Hebamme“ fand. Genazino, der „Lyrik schrieb, weil’s schnell ging“, lernte von Astel seine Lektion. Danach war alles Prosa.
Michael Buselmeier – seinen daheim vergessenen Spickzettel beklagend – schafft es an diesem Sonntag im Spiegelzelt nicht, die biographischen Stationen des Büchner-Preisträgers „abzuarbeiten“. Dafür bekommt das Publikum interessante Einblicke in Genazinos aktuellen Roman „Mittelmäßiges Heimweh“. Genazinos Anti-Held heißt darin Dieter Rotmund, ist Controller einer Arzneimittelfirma, und verliert im ersten Kapitel des Buches ein Ohr, später seine Frau und am Ende den kleinen Zeh und die Geliebte. Wie er es schafft, ein an sich literarisch nicht mehr erzählbares Thema (das Scheitern einer Ehe) wieder erzählbar zu machen, wie er neue Aufmerksamkeit weckt für ein „monumental gewordenes Banalproblem“ (den Lärm, der uns alltäglich tyrannisiert), davon erzählt Genazino, der „glückliche Melancholiker“, der ausgerechnet bei der „Erlebten Geschichte“ offenbart, dass er nicht gerne über Biographisches redet und deshalb die Wiederveröffentlichung seines ersten (autobiographischsten) Romans verhindert. Bereit ist er aber doch von der Prägung durch sein Elternhaus, seinem „Schulversagen“ und dem späten Ausgleich dieser „Niederlage“ durch Abitur und Studium zu berichten.
Die nächste „Erlebte Geschichte“ gibt es am 13. Juli mit dem Historiker Jochen Goetze. (eu)