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„Die Konversion ist eine Jahrhundert-Chance für die Stadtentwicklung“

Interview mit Oberbürgermeister Dr. Eckart Würzner

Das Jahr 2011 geht zu Ende: Zeit für das traditionelle OB-Interview im stadtblatt. Dr. Eckart Würzner blickt auf das Jahr 2011 zurück und gibt einen Ausblick auf die Herausforderungen der kommenden Jahre.

Oberbürgermeister Dr. Eckart Würzner (Foto: Kresin)
Oberbürgermeister Dr. Eckart Würzner (Foto: Kresin)

? Herr Oberbürgermeister, welches Ereignis im Jahr 2011 war für Sie besonders prägend?

Dr. Eckart Würzner: Die Katastrophe von Fukushima war das Ereignis, das das Jahr 2011 bestimmte. Die ganze Welt trauerte mit den Japanern um die vielen Opfer und war entsetzt über die Auswirkungen des Atom-GAUs.

? Hat Fukushima auch Auswirkungen auf die Kommunalpolitik?

Würzner: Viele Bürgermeister haben sich die Frage gestellt, ist solch eine Katastrophe auch in Deutschland vorstellbar, was kann man dagegen tun, wie sieht eigentlich unsere Energieversorgung aus? Für Heidelberg bin ich froh, dass Stadtspitze, Gemeinderat und Verwaltung schon in den 90er Jahren den richtigen Weg eingeschlagen haben. Wir setzen auf grünen Strom, also Strom aus erneuerbaren Energieträgern. Wir haben ein bundesweit einzigartiges Energiesparkonzept, wodurch wir den Energieverbrauch aller kommunalen Gebäude in den letzten zehn Jahren um fünfzig Prozent senken konnten. Wir haben Förderprogramme zum Ausbau erneuerbarer Energien und für die Sanierung von Altbauten. Diesen Weg haben wir auch dieses Jahr konsequent fortgesetzt. Vor wenigen Wochen haben wir den Grundstein für ein neues Holzheizkraftwerk an der Eppelheimer Straße gelegt, das Strom und Wärme aus nachwachsenden Rohstoffen erzeugt. Es ist bundesweit das größte regenerative Kraftwerk, das nach dem Atomausstiegs-Beschluss der Bundesregierung in Bau gegangen ist. Mit der Bahnstadt zeigen wir sogar, wie man einen ganzen Stadtteil für 12.000 Einwohner und Beschäftigte nachhaltig entwickeln kann. Dank Passivhaus-Standard und regenerativer Energieversorgung entsteht dort Europas größter Nullemissions-Stadtteil. Wir gelten damit weltweit als einer der Vorreiter in Sachen Klimaschutz.

? Wenn man sich die Bautätigkeit im neuen Stadtteil betrachtet, scheint der ja bestens anzukommen.

Würzner: Die Bahnstadt entwickelt sich sehr dynamisch, 2011 war das Jahr der Spatenstiche und Richtfeste. Aber hier geht es um weit mehr als Spatenstiche. Wir entwickeln einen neuen Stadtteil mit hoher Lebensqualität und einem Campus im Zentrum, der zu unserer Wissenschaftsstadt passt. Es ist die Mischung aus Wohnen, Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur, die die hohe Lebensqualität und die Attraktivität Heidelbergs ausmacht. Diese Mischung ist das Fundament auch für die Bahnstadt, verbunden mit der heutigen Qualität in Architektur und Städtebau. Wer hier wohnt, kann sein Kind zu Fuß in eine der beiden Kitas bringen, geht danach zum Arbeiten ins Labor, nimmt die Straßenbahn in die Innenstadt oder geht zu Fuß zum Hauptbahnhof. Das Konzept kommt so gut an, dass wir schneller vorankommen als geplant. Bis Anfang 2014 werden mehr als 1.000 Wohneinheiten bezugsfertig sind.

? Das ist schön. Aber was haben die anderen 14 Stadtteile Heidelbergs davon?

Würzner: Sehr viel. Die Bahnstadt schafft Wohnraum für mehr als 5.000 Menschen. Das entlastet den Wohnungsmarkt in der gesamten Stadt. Gut die Hälfte der Mieter und Käufer sind Neubürger. Das bedeutet zusätzliche Kaufkraft, für Geschäfte in der Altstadt genauso wie für den Handwerker in Handschuhsheim; das bedeutet zusätzliche Interessenten für Vereine und Kultureinrichtungen und zusätzliche Steuereinnahmen. Vor allem aber sind das Tausende von Fachkräften, auf die die Wissenschaft und die Unternehmen in unserer Stadt dringend angewiesen sind und um die sich die Städte regelrecht reißen. Dazu kommen 7.000 Arbeitsplätze, vorrangig in der Wissenschaft und wissenschaftsnahen Unternehmen. Auch davon profitiert natürlich die gesamte Stadt, nicht nur kurzfristig, sondern langfristig.

? Sie betonen immer wieder die zentrale Rolle der Wissenschaft in Heidelberg. Auch hier: Was hat Otto Normalverbraucher davon, wenn in seiner Nachbarschaft Professoren über den Informationstransport in Nervenzellen diskutieren?

Würzner: Zunächst einmal haben wir zigtausende von zukunftssicheren Arbeitsplätzen in den Forschungseinrichtungen und in forschungsnahen Unternehmen. Das reicht vom Hausmeister über die Krankenschwester bis zum Molekularbiologen. Heidelberg ist mit 112.000 Arbeitsplätzen bei 145.000 Einwohnern ein attraktiver Arbeitsstandort. 70 Prozent der Arbeitsplätze liegen im Bereich der Wissenschaft und Hochtechnologie. Die Wissenschaft zieht weitere Unterstützung an. Immer wieder engagieren sich großartige Mäzene wie Klaus Tschira oder Dietmar Hopp mit Millionen-Beträgen. Ein großes Glück ist auch, dass sich die Wissenschaft in Heidelberg in die Stadtgesellschaft einbringt. Nehmen Sie alleine das Bildungsangebot. Die Bertelsmann-Stiftung hat uns vor wenigen Wochen attestiert, dass Heidelberg der beste Schulstandort in ganz Deutschland ist. Daran hat auch die Wissenschaft ihren Anteil.

? Inwiefern?

Würzner: Hochschulen und Forschungseinrichtungen bereichern die Bildungsangebote, die wir unseren Bürgerinnen und Bürgern anbieten. Nehmen Sie zum Beispiel das wunderbare Haus der Astronomie. Aber auch wir als Stadt nehmen den Bildungsauftrag nicht nur ernst, sondern setzten mit der Familienoffensive gerade auch in diesem Bereich in den letzten Jahren einen politischen Schwerpunkt. Alleine in den vergangenen vier Jahren haben wir mehr als 100 Millionen Euro in Schulsanierungen und Entwicklungskonzepte investiert. Wir haben ein Unterstützungsprogramm für sozial benachteiligte Kinder auf alle Schularten ausgeweitet. In Zusammenarbeit mit Uni, PH und Stiftungen haben wir eine Deutsch-Sprachförderung entwickelt und diese im zurückliegenden Jahr auf alle Heidelberger Schulen ausgedehnt. Das ist ganz entscheidend ist für unsere Kinder mit Migrationshintergrund. Denken Sie an die Heidelberger Ballschule als Angebot an alle Grundschüler in enger Zusammenarbeit mit Professor Roth und Manfred Lautenschläger oder an die vielen Wissenschaftsprogramme für Kindergärten und Schulen. Das alles hat zu der Auszeichnung durch die Bertelsmann-Stiftung beigetragen.

? Stichwort Kinder: Das Land erhöht seinen Zuschuss für die Kinderbetreuung. Was heißt das für Heidelberg?

Würzner: Das bedeutet, dass wir das heute schon sehr gute Angebot weiter ausbauen können. Das Deutsche Jugendinstitut hat uns dieses Jahr in einer bundesweiten Studie eine „Traumquote“ bei der Kinderbetreuung bescheinigt: Bei den 3- bis 6-Jährigen haben wir eine Betreuungsquote von mehr als 100 Prozent. Bei den unter Dreijährigen haben wir mit rund 40 Prozent die höchste Quote in Westdeutschland. Dennoch müssen wir dieses Angebot weiter ausbauen, da die Nachfrage stetig wächst. Wir sind hier in einer Erfolgsspirale: Durch das gute Angebot ziehen wir Familien an, die eine zusätzliche Nachfrage erzeugen. Das schlägt sich nachweislich in der Bevölkerungsentwicklung nieder. Das Statistische Landesamt prognostiziert, dass Heidelberg von allen Städten des Landes im Zuge des demographischen Wandels am wenigsten altert. Und: Heidelberg wächst dank seiner hohen Attraktivität als eine von ganz wenigen Städten in Deutschland.

? Die Attraktivität Heidelbergs hat aber auch ihren Preis: Die Mieten sind hoch, Wohneigentum für viele nicht bezahlbar.

Würzner: Das ist eine der zentralen Aufgaben: Wir müssen das Wohnungsangebot ausbauen. Dabei hat die sogenannte InWis-Studie in diesem Jahr gezeigt, dass wir sehr unterschiedliche Bedürfnisse bedienen müssen. Einfach nur billigen Wohnraum zu bauen, wäre nicht die Lösung. Wir brauchen ein vielfältiges Angebot, Senioren haben andere Bedürfnisse als junge Familien. Wir haben in jüngster Vergangenheit im Schollengewann, in Kirchheims Im Bieth oder natürlich in der Bahnstadt neues Wohnen ermöglicht. Ganz neue Dimensionen bieten sich künftig mit den US-Flächen. Das ist eine Jahrhundertchance für unsere Stadtentwicklung, die wir gemeinsam beim Schopfe packen. Wir können dort mit verschiedensten Wohnformen Druck vom Wohnungsmarkt nehmen. Nehmen Sie nur das Beispiel Holbeinring: Auf dieser vergleichsweise kleinen, durch die Amerikaner frei gegebenen Fläche entstanden dieses Jahr 640 Wohnheimplätze für Studentinnen und Studenten.

? Die US-Flächen sollen ja mit Beteiligung der Bürger entwickelt werden.

Würzner: Es gibt eine intensive Bürgerbeteiligung bei der Diskussion darüber, was auf den US-Flächen in Zukunft geschehen könnte. Unser Erster Bürgermeister Bernd Stadel leitet diesen Prozess der Bürgerbeteiligung sehr engagiert. Unser Entwicklungsbeirat mit 34 Vertretern unterschiedlicher Institutionen und Verbände arbeitet sehr zielgerichtet. Auf zwei Bürgerforen haben die Heidelbergerinnen und Heidelberger über 500 Ideen formuliert. Über die weitere Entwicklung der Flächen werden wir zudem mit dem Eigentümer der Fläche, dem Bund, vertreten durch die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben, Gespräche und Verhandlungen führen. Das ist eine nicht ganz einfache Aufgabe.

? Die Beteiligung der Bürger ist auch bei anderen Projekten vorgesehen?

Würzner: Die Bürger fordern heute wesentlich mehr Mitsprache als noch vor wenigen Jahren. Das ist gut so und darauf gehen wir auch ein, es muss aber zielgerichtet sein: so beispielsweise mit Foren bei der Neugestaltung der Hauptstraße oder mit einer geplanten Bürgerbefragung zur Umgestaltung des Tiefburg-Platzes. Im kommenden Jahr soll zudem ein umfangreiches Bürgerbeteiligungsverfahren zur Standortsuche für ein wissenschaftliches Tagungszentrum starten. Die Bürgerstiftung hat dazu einen Fünf-Stufen-Plan vorgelegt, mit dem sich der Gemeinderat im Januar befassen wird. Es ist mir wichtig, dass Bürgerbeteiligung zu einem selbstverständlichen Bestandteil der Heidelberger Stadtkultur wird. Die Bürgerinnen und Bürger sollen bei allen bedeutenden Projekten der Stadtentwicklung die Möglichkeit haben, sich frühzeitig zu beteiligen. Derzeit erarbeitet ein Arbeitskreis entsprechende Leitlinien. Dieser Weg ist nicht einfach. Hier müssen sich viele Akteure auf Änderungen einlassen, die Verwaltung genauso wie der Gemeinderat, Unternehmer und Bauherren genauso wie die Bürgerinnen und Bürger, denen ein hohes Maß an Engagement abverlangt wird. Ich bin aber guter Dinge, dass uns dies gelingt und dass wir damit sowohl die Diskussionskultur als auch die Umsetzungszeiträume weiter verbessern können.

? Und Ihre eigenen Ideen zur Konversion?

Würzner: Ich bin überzeugt, dass Patrick Henry Village ein ganz besonderes Potenzial hat, das bislang von vielen unterschätzt wird. Sie haben dort einen grünen und dank Lärmschutzwand absolut ruhigen Stadtteil. Sie sind schnell in der Heidelberger Innenstadt und haben nur eine Autobahnabfahrt bis zur SAP. Das sind ideale Bedingungen etwa für einen Campus mit einer Mischung aus Wissenschaft, wissenschaftsnahen Unternehmen und Wohnen. Und in Bezug auf die Flächen in der Innenstadt kann ich mir vorstellen, dass wir neben neuen Grünachsen und Rad- und Fuß-Verbindungen zwischen den Stadtteilen auch einen Stadtpark entwickeln, zwar nicht ganz in der Größe aber in der Qualität des Englischen Gartens in München. Das könnte auch die Neckarwiese spürbar entlasten. Aber jetzt gilt es, zunächst einmal die derzeitige Phase abschließen, in der wir flächenübergreifend Leitlinien der künftigen Nutzung entwickeln.

? In seiner jüngsten Sitzung hat der Gemeinderat auch die Durchführung einer Internationalen Bauausstellung beschlossen.

Würzner: Ein ganz wichtiger Beschluss für die Zukunft der Stadt Heidelberg. Und ein starkes Signal, dass sich der Gemeinderat fast einstimmig für das ehrgeizige Vorhaben ausgesprochen hat. Es wird ohnehin häufig übersehen, dass wir die allermeisten Entscheidungen im Gemeinderat mit breiter Mehrheit oder sogar einstimmig treffen. Das ist ein wesentlicher Grund für die gute Entwicklung unserer Stadt. Im Rahmen der Internationale Bauausstellung unter dem Motto „Wissen schafft Stadt“ wollen wir in den kommenden zehn Jahren gemeinsam mit der gesamten Stadtgesellschaft ein Modell für eine lebenswerte, typisch europäische Wissenschaftsstadt entwickeln. Es geht um den Schulterschluss zwischen der Wissenschaft und allen weiteren Bereichen der Stadtgesellschaft. Entsprechend sollen viele Akteure mitwirken: Schulen, Kindergärten, Kultureinrichtungen, Unternehmen oder Sozialeinrichtungen. Noch klingen die Papiere hierzu sehr abstrakt. Aber das wird sich schnell mit konkreten Ideen und Projekten füllen, etwa im Bereich der Bildung oder der Kultur. Wolfgang Erichson hat als Bürgermeister für das Thema Integration beispielsweise ja schon angeregt, im Rahmen der IBA ein interkulturelles Zentrum von ganz neuer Qualität zu errichten.

? Was hat ein interkulturelles Zentrum mit Wissenschaft zu tun?

Würzner: Wissenschaft ist international und bietet als Fundament einer Stadt besonders gute Möglichkeiten, Menschen verschiedenster Herkunft zu integrieren. Diese Chance nutzen wir. Vor wenigen Tagen haben wir unseren Kommunalen Integrationsplan der Landesministerin übergeben. Das war und ist gelebte Bürgerbeteiligung. Mehr als 100 Akteure haben drei Jahre lang ihre Ideen eingebracht. Wir sind die erste Stadt in Deutschland, in der die Akteure gemeinsam einen konkreten Maßnahmenkatalog entwickelt haben. Michael Mwa Allimadi, Vorsitzender des Ausländerrats, hat gesagt: „Der Integrationsplan macht Heidelberg zu dem, wovon wir träumen: Gleichberechtigt miteinander leben.“

? Und wie ist die heutige Realität?

Würzner: Heidelberg ist natürlich keine Insel der Glückseeligen. Aber wir arbeiten in Heidelberg mit einer Vielzahl von Maßnahmen daran, soziale Nachteile auszugleichen und jedem Bürger gute Chancen zu bieten. Ich habe beispielsweise die Sprachförderung und die Schulsozialarbeit erwähnt. Dazu kommen viele Projekte, etwa auf dem Emmertsgrund. Bürgermeister Joachim Gerner versteht es, viele Akteure in der Stadt, die eine hervorragende Arbeit machen, zusammen zu führen. Der Sozialbericht zeigt, dass wir auf einem guten Weg sind. So konnten wir etwa die Quote der Migrantenkinder, die auf das Gymnasium wechseln, auf 31 Prozent steigern. Das liegt weit über dem Bundesdurchschnitt. Und, was mich besonders freut: 97 Prozent der jungen Erwachsenen in Heidelberg sind in Ausbildung oder Beschäftigung. Das ist die beste Basis für eine gute Zukunft unserer Stadt.

? Ihr Ausblick auf 2012?

Würzner: 2012 wird sich Heidelberg mindestens genauso dynamisch entwickeln wie 2011. Ich bin gespannt, wie sich der Prozess der Konversion der US-Flächen entwickelt. Ich freue mich auf die ersten Bewohner in der Bahnstadt. Und ein großer Tag wird die Wiedereröffnung unseres Theaters sein, dessen Sanierung Bürgerinnen, Bürger, Unternehmen und in ganz besonderem Maße Wolfgang Maguerre mit Spenden in Höhe von 16 Millionen Euro ermöglicht haben. Ich freue mich auf die vielen Veranstaltungen - von den Stadtteil- und Vereins-Festen, die das großartige Engagement vieler Bürgerinnen und Bürger in den Vereinen widerspiegeln, bis zu den hochkarätigen Kulturveranstaltungen unter Leitung unseres neuen Theater-Intendanten Holger Schultze und den Kultur-Festivals wie dem Heidelberger Frühling, Enjoy Jazz, Literaturtage oder dem Filmfestival. Diese Angebote sind es, die Heidelberg nicht nur schön und erfolgreich, sondern einfach auch liebenswert machen.

(Die Fragen stellten Achim Fischer und Eberhard Neudert-Becker)