Umwelt
Im Eierkarton in die neue Heimat
Die Eidechsen aus der Bahnstadt werden umgesiedelt – Von Kurt F. de Swaaf
Was tun, wenn gesetzlich geschützte Eidechsen ausgerechnet dort leben, wo ein ganzer Stadtteil neu gebaut werden soll? Heidelberg wählt die sanfte Tour: Mit Mini-Schlingen werden Hunderte der kleinen Reptilien eingefangen und umgesiedelt.
Das Gelände wirkt nicht gerade lebensfreundlich. Brauner Schotter, hier und da eine Plastikflasche oder eine verrostete Dose, Grün ist Mangelware. Am blauen Himmel die aufsteigende Morgensonne, vor der kein Baum weit und breit Schutz gewährt. Die Luft vibriert bereits, es verspricht ein heißer Tag zu werden. Unter den Füßen knirschen die Steine. Diese von Menschen erschaffene Miniatur-Wüste ist das ehemalige Rangier-Areal südwestlich des Heidelberger Hauptbahnhofs. Die Schienenanlagen sind verschwunden, und noch in diesem Sommer werden die Bagger anrücken, um mit den Bauarbeiten für einen komplett neuen Stadtteil zu beginnen. Doch zuerst gibt es noch etwas anderes zu erledigen.
Am Rande der Ödnis pirscht sich Michael Braun an seine Beute heran. Im Zeitlupentempo schiebt der Biologe einen langen Stab zwischen wuchernde Brombeersträucher. Seine ganze Aufmerksamkeit gilt dem Reptil, das dort auf einem Stück Holz liegt. Die Eidechse scheint nichts zu ahnen. Verlässt sie sich auf ihre Tarnung? Das Tier neigt nur leicht den Kopf und schaut ohne ein Anzeichen von Besorgnis auf die immer näher kommende Rutenspitze. Die kaum sichtbare Nylonschlinge legt sich um ihren Hals, dann zieht Braun blitzschnell den Arm hoch. Die Eidechse zappelt wild, bis sie der Spezialist mit geübten Fingern aus der Schlinge löst.
Wohin mit den Echsen?
Es ist eine Mauereidechse (Podarcis muralis), die hier am häufigsten vorkommende Art. Der Bahndamm bietet den flinken Tieren erstklassige Lebensbedingungen: sonnige Lage, zahllose Schlupfwinkel, reichhaltiges Angebot an nahrhaften Spinnen und Insekten. „Ein wahres Schlaraffenland“, sagt Braun.
Aber nicht mehr lange: Die Stadt Heidelberg und ihre Investoren wollen auf dem ehemaligen Bahngelände dringend benötigten Wohnraum schaffen – die geschuppten Ureinwohnern des Gebiets müssen weichen. Doch Mauereidechsen sind – wie alle einheimischen Reptilien – gesetzlich geschützt. Wo also sollen sie hin, wenn nicht ins Jenseits?
Hartmut Müller-Falkenhahn vom Institut für Umweltstudien (IUS) kennt die Antwort. Der Landschaftsarchitekt holt eine Luftaufnahme hervor. Das Areal der zukünftigen „Bahnstadt“ ist blau eingerahmt, daneben erstrecken sich einige gelbe Streifen. „Das sind die Ausgleichsflächen“, sagt Müller-Falkenhahn, während sein Zeigefinger über Heidelberg-Süd kreist. Es handle sich um ebenfalls stillgelegte Bahntrassen, die ökologisch aufgewertet werden und den Eidechsen eine neue Heimat bieten sollen.
Ganz einfach ist das nicht. Mauereidechsen sind zwar recht robuste Gesellen, die in Südeuropa sogar Großstädte besiedeln, aber auch sie stellen gewisse Mindestansprüche an ihren Lebensraum. Üppigen Bewuchs können die Kaltblüter zum Beispiel überhaupt nicht leiden. Er nimmt ihnen die Plätze zum Sonnenbaden und verursacht ein kühleres, feuchteres Mikroklima. Italienische Forscher stellten sogar fest, dass in naturnahen Grünflächen der Stadt Rom lebende Podarcis-muralis-Populationen nach zerstörerischen Sommerfeuern wachsen. Die Tiere profitieren offenbar vom Abbrennen der Vegetation.
Nackter Stein statt pralles Grün
Einen ähnlichen Effekt streben die IUS-Planer in Heidelberg an. Die auf den verwilderten Ausgleichsflächen wachsenden Bäume und Sträucher wurden teilweise und mancherorts sogar komplett gerodet. Die Fällarbeiten ließen aufgebrachte Bürger bei der Stadtverwaltung anrufen. Man beruhigte die Gemüter. Manchmal müsse man zwecks Naturschutz eben auch zur Motorsäge greifen, meint Müller-Falkenhahn.
Abholzen allein aber macht aus alten Bahnstrecken noch keine Eidechsen-Paradiese. Damit sich die Reptilien so richtig wohlfühlen, stellt man ihnen so genannte Gabionen hin – knapp einen Meter hohe Mauereidechsen-Hochhäuser aus Drahtkäfig, gefüllt mit Steinblöcken oder Holzklötzen. Um die Fortpflanzung zu begünstigen, wird neben dem Schotter auch Sand aufgeschüttet. Darin können die Tiere ihre Eier optimal vergraben. Auf abgemagertem Boden soll eidechsen-freundliche Vegetation sprießen. Man gibt sich alle Mühe.
Für den Biologen Braun und seine Kollegen vom Naturschutzbund (Nabu) ist heute ein guter Fangtag. „Ich habe gerade einen schönen Mann gefangen“, ruft Cindy Weidner begeistert. Es ist in der Tat ein Prachtexemplar. Der orangefarbene Bauch des sich windenden Tieres leuchtet im Sonnenlicht.
Weidner setzt ihre Beute behutsam in ein Plastikterrarium und macht sich erneut auf die Suche. Kurz darauf schnellt ihre Rute wieder hoch, doch kann sich die Eidechse blitzschnell aus der Schlinge befreien. Je wärmer es wird, desto wendiger werden die Reptilien.
Je wärmer, desto flinker
„Gegen Mittag hören wir auf, dann bringt es nichts mehr“, sagt Braun. 25 Eidechsen haben sie in gut zwei Stunden gefangen. Jedes ausgewachsene Exemplar wird fotografiert. Die individuellen Farbmuster ändern sich nicht mehr, die Experten können die Tiere noch Jahre später wiedererkennen. Jede Echse bekommt eine persönliche Nummer. Froh wirken die Reptilien trotzdem nicht. Ein Weibchen beißt Cindy Weidner in den Finger und reißt anschließend ihr zahnloses Maul auf. Die Wissenschaftlerin lacht. „Sie versucht mich zu beeindrucken.“
Nach der Registrierung gehen die Tiere per Auto auf die Reise zur Ausgleichsfläche A3, nur knapp einen Kilometer von ihrer ursprünglichen Heimat entfernt. Eine Rückwanderung ist unwahrscheinlich: Mauereidechsen sind ziemlich standorttreu – vorausgesetzt, sie haben alles, was sie brauchen.
Die Ankunft im neuen Revier scheint das zu bestätigen. Kaum öffnen die Biologen die Terrarien neben einer mit Holz vollgestopften Gabione, wuseln die Reptilien heraus und verstecken sich zwischen den Klötzen und im Schotter. Insgesamt rund 700 Mauereidechsen sollen auf diese Art umgesiedelt werden, erklärt Hartmut Müller-Falkenhahn. Dazu kämen etwa 100 Zauneidechsen – eine Menge Arbeit für Braun und seine Kollegen.