Thema der Woche

Ausgabe Nr. 44 · 29. Oktober 2003



Diskutierten über bürgerschaftliches Engagement und Barrierefreiheit (v.l.): der blinde Hans-Peter Hafen, Reinhild Möller vom Verein Behinderte helfen Nichtbehinderten, Moderatorin Prof. Dr. Sigrid Kallfaß, Helga Grimme, Oberbürgermeisterin Beate Weber und Geislingens OB Wolfgang Amann. (Foto: Neudert)



Die Barrieren im Kopf abbauen
Städtenetzwerktreffen am 22. Oktober in Heidelberg beschäftigte sich mit "Bürgerschaftlichem Engagement und Barrierefreiheit"


Am 22. Oktober stand Heidelberg ganz im Zeichen behinderter Menschen. Auf dem Kornmarkt rund um den EU-Kampagnenbus zum "Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen" informierten sie über ihre Situation sowie Wege und Probleme, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Gleich nebenan im Prinz Carl tauschten sich Vertreter baden-württembergischer Städte zum Thema "Bürgerschaftliches Engagement und Barrierefreiheit" aus.

Zudem weilten Delegationen aus Cambridge und Montpellier in Heidelberg, um sich darüber zu informieren, wie in der Partnerstadt Heidelberg das Problem Barrieren im öffentlichen Raum gelöst wird. Sie nahmen am Städtenetzwerktreffen teil und berichteten am Kampagnenbus über Behindertenpolitik in ihren Städten.

Oberbürgermeisterin Beate Weber begrüßte die Teilnehmer des Städtenetzwerktreffens im Spiegelsaal. Sie wies darauf hin, wie wertvoll die Arbeit des Netzwerks für die Stadt Heidelberg sei und wie wichtig es für die Kommune sei, dass über bürgerschaftliches Engagement Beteiligung am städtischen Leben stattfinde. Mit Blick auf die Ausstellung im Rathausfoyer über die Verschleppung von Juden aus der Region nach Gurs vor genau 63 Jahren sagte sie: "Hätte es damals Bürgerschaftliches Engagement wie heute gegeben, wäre das nicht passiert."
 

"Barrierefreiheit muss so selbstverständlich
werden wie Brandschutz"

 
Im Mittelpunkt des Treffens stand am Vormittag eine Talkrunde über "bürgerschaftliches Engagement und Barrierefreiheit", an der der erblindete Hans-Peter Hafen, Helga Gramme, die 13 Jahre im Rollstuhl saß, Reinhild Möller vom Verein Behinderte helfen Nichtbehinderten, Geislingens Oberbürgermeister Wolfgang Amann und OB Beate Weber teilnahmen. Da klagte beispielsweise Hans-Peter Hafen, dass er und andere Behinderte grundsätzlich Baumaßnahmen hinterherlaufen, um neue Barrieren in öffentlichen Räumen zu verhindern: "Es gibt viel zu wenig Behindertenbeauftragte mit Kompetenzen, die bei Bauvorhaben hinzugezogen werden."

Geislingens OB Wolfgang Amann leitet eine Stadt, die als "Barrierefreie Kommune" ausgezeichnet wurde. Er forderte, "dass die Teilhabe aller Menschen am Leben Selbstverständlichkeit sein muss". Dazu müsse man "Barrieren im Kopf abbauen". Konkret bedeute das auch, dass in den Kommunen Behinderte in die Planung öffentlicher Gebäude und Räume einbezogen werde. Auch Beate Weber argumentierte in diese Richtung: Nicht für, sondern mit Behinderten gelte es zu planen: "Es ist Aufgabe der Städte das zu ermöglichen."

"Wir sind nicht Behinderte, wir sind Menschen", forderte Helga Gramme Nichtbehinderte dazu auf, ihre bisherige Wahrnehmung zu ändern. Sie hat in ihrem Heimatort eine Rollstuhlinitiative ins Leben gerufen und diese wurde bei der Ortskernsanierung auch zu Rate gezogen. Allerdings hat sie besonders bei Gaststätten viel Nachholbedarf entdeckt: "Im Hinblick auf Barrierefreiheit ist die Gastronomie ein weißer Fleck."
 
 

"Im Hinblick auf Barrierefreiheit
ist die Gastronomie ein weißer Fleck"

   
  Doch wie lassen sich die Barrieren im Kopf beseitigen? Wolfgang Amann betonte, dass Motivieren und ein gewisser Druck durch die öffentliche Hervorhebung barrierefreier Einrichtungen hilfreich sei. Besonders erfolgreich sei in Geislingen eine Woche der Begegnung gewesen, in der Menschen aus anderen Berufen in Pflegeeinrichtungen gearbeitet hätten. "Daraus sind sogar Freundschaften entstanden." Beate Weber stellte fest, dass das Gleichstellungsgesetz als Rahmenbedingung äußerst hilfreich sei. Sie forderte dazu auf, die Wahrnehmung für die Bedürfnisse der Behinderten zu schärfen und forderte die Behinderten auf, in allen Bereichen "ihre Interessen deutlich zu artikulieren". Sie und der Geislinger Kollege waren sich einig, dass für eine konsequente Teilhabe der Behinderten am gesellschaftlichen Leben die Vernetzung von Politik, Verwaltung und Bürgerschaftlichem Engagement notwendig sei.

Die Behinderten in der Talkrunde machten die Erfahrung, dass die Zusammenarbeit mit Behindertenverbänden bei der Vertretung der Interessen sehr nützlich sei. Gemeinsames Auftreten erhöhe das Durchsetzungsvermögen und sei schon deswegen erforderlich, weil jede Art der Behinderung individuelle Lösungen fordere: Eine Rampe für den Rollstuhlfahrer gibt einem Blinden noch lange keine Orientierung. Er braucht andere Hilfsmittel für seine eingeschränkte Mobilität.
   
 

"Wir sind nicht Behinderte,
wir sind Menschen"

   
  Für die Teilhabe aller Menschen am gesellschaftlichen Leben müssten die Kommunalpolitikerinnen und -politiker die Voraussetzungen schaffen, betonten Beate Weber und Wolfgang Amann in ihren Schlussworten. Reinhild Möller legte Wert auf die "konstruktive Teilhabe", weil dieser Begriff beinhalte, dass Behinderte aktiv an der Gestaltung ihres Lebensumfeldes beteiligt sind. Und Hans-Peter Hafen drückte in zwei knappen Sätzen sehr deutlich aus, wie Barrierefreiheit zu erreichen ist: "Nur bauen, was wirklich alle benutzen können." Und: "Barrierefreiheit muss so selbstverständlich werden wie Brandschutz." (neu)

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Unser Bild zeigt Heike Dießelberg (2.v.l.) und Gabi Renger (r.) vom Amt für Öffentlichkeitsarbeit, die darüber berichteten, wie sie gemeinsam mit der blinden Karin Dülfer (2.v.r.) vom Verein "web for all" einen barrierefreien Internetauftritt der Stadt Heidelberg vorbereiten. Links im Bild Moderator Erwin Dreßler. (Foto: Jaeger)
EU-Kampagnenbus
Am 22. Oktober wurde der Kornmarkt Parkplatz für den Kampagnenbus der EU zum Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen. Behindertenverbände stellten ihre Aktivitäten vor: Unter anderem wurde der "Age Explorer" gezeigt, mit dem sich die körperlichen Einschränkungen von Senioren simulieren lassen. Eltern behinderter Kinder berichteten über die Integration in Kindergarten und Schule, Rollstuhlfahrer über ihren Gaststättencheck in Sachen Barrierefreiheit. Veranstaltet wurde die Informationsbörse von einem Regionalen Aktionsbündnis von Behindertenverbänden und anderen Einrichtungen, in dem auch die Stadt Heidelberg vertreten ist.

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Die Gäste beim Besuch im Selbsthilfe- und Projektebüro (Foto: Neudert)
Aus Cambridge und Montpellier ...
...waren Delegationen nach Heidelberg gekommen, um sich in der Partnerstadt darüber zu informieren, wie man hier versucht, die verschiedenen Formen der Barrieren abzubauen. Die Gäste nahmen am Städtenetzwerktreffen teil und berichteten am EU-Kampagnenbus über Behindertenpolitik in ihrer Heimat. Außerdem absolvierten sie ein enges Besuchsprogramm. So besichtigten sie die barrierefreie Stadtbücherei, informierten sich über den behindertengerechten Ausbau der Musik- und Singschule und machten eine Visite im Bürgeramt Mitte, das ebenfalls gerade mit barrierefreien Zugängen ausgestattet wird. Bei einem Besuch im Selbsthilfe- und Projektebüro tauschte man sich über die Unterstützungs-, Förderungs- und Pflegemöglichkeiten für Behinderte in den drei Ländern aus. Auch ein Besuch der SRH-Gruppe stand auf dem Programm, wo besonders die Ausbildungsangebote für Behinderte interessierten.

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Stand: 28. Oktober 2003