Thema der Woche

Ausgabe Nr. 42 · 18. Oktober 2000



Deportiertenlager Gurs in Südfrankreich. (Foto: Stadtarchiv Karlsruhe/infocampo-pau)

Deportation in die "Baracken-Winter-Finsternis"

Am 22. Oktober vor 60 Jahren wurden 282 Heidelberger Juden nach Gurs in Südfrankreich verschleppt
Am 22. Oktober zwischen 4 und 7 Uhr morgens drang Gestapo in die Wohnungen Heidelberger Juden. Innerhalb einer halben Stunde mussten sich 282 Juden aus Heidelberg zum Abtransport bereit machen. 100 Reichsmark und 50 Kilogramm Gepäck durfte jeder mitnehmen. Keiner wusste, wohin es ging, Verwirrung, Angst, Verzweiflung herrschte bei den betroffenen Familien.

Gurs in den Pyrenäen war das Ziel dieser ersten Deportation von Juden aus dem Deutschen Reich. Darunter waren überdurchschnittlich viele ältere Menschen, drei Viertel der zum Abtransport Bestimmten war über 45 Jahre alt. Erich Gaber (8 Jahre), Liselotte Hermann (9 Jahre), Leonora Sondheimer (11 Jahre) und Gerd Grünhut (12 Jahre) waren die Jüngsten. Mehr als ein Drittel aller Heidelberger Juden, die die Nazis nach Gurs deportierten, fanden dort oder in den Vernichtungslagern des Ostens den Tod.

Mehrere tausend Menschen aus Baden, der Pfalz und dem Saarland wurden in diesen Tagen in das Lager Gurs verschleppt, das eigentlich zur Aufnahme von Flüchtlingen aus dem Spanischen Bürgerkrieg gebaut wurde. Innerhalb kürzester Zeit wurden rund 13.000 Deportierte in dem Lager untergebracht.

Wie die Menschen damals diese Katastrophe erlebten, darüber geben die Augenzeugenberichte erschütternde Auskunft.

Hermann Maas, Pfarrer von Heiliggeist und ein Mann mit Zivilcourage, der vielen Juden half, dem sicheren Tod zu entkommen, schildert den Tag der Deportation:

"Den 22. Oktober werde ich nie vergessen. In aller Frühe bekam ich schon telefonische Anrufe von Mannheim durch jüdische Freunde: "Wir werden abtransportiert nach den Pyrenäen." Das Herz stand mir fast still. Dann erwachte gleich die Frage: Was tun? Sehr schnell konnte ich feststellen, daß an dem Befehl nichts mehr zu ändern war...

In einer Apotheke verschafften wir uns stark abführende Medikamente, die wirkten und halfen da und dort in einigen Fällen. "Nicht transportabel" war dann das rettende Urteil. Der ganze Tag galt den Abschiedsbesuchen. Herzzerreißende Szenen erfüllten sie. Wir erlebten menschlich kleines und menschlich sehr großes an diesem Tag. Von den erschütternden Abschieden in den Abendstunden dieses furchtbaren Tages, dieses Schandtages und jüdischen Passionstages will ich nichts mehr sagen. In den kommenden Nächten ließ mich der Selbstvorwurf nicht schlafen, daß ich nicht freiwillig mitgefahren war..."




Miriam Gerber
kam als 18Jährige nach Gurs. Glücklicherweise kann sie schon im Frühjahr 1941 das Lager verlassen und in die Dominikanische Republik emigrieren. Im Lager schreibt sie über den Tag der Deportation:

"Und dann kam der 22. Oktober 1940. Wir sind noch im Bett. Nur Mutti ist auf. Es ist halb acht Uhr. Plötzlich höre ich unbekannte Männerstimmen bei uns im Flur, und dann verstehe ich, was sie vorlesen: "Sie haben innerhalb einer Stunde am Bahnhof zu sein. Pro Person sind 50 Kilo Gepäck erlaubt. Verpflegung für vier Tage."...Ich bin erstarrt, springe aus dem Bett, ziehe mich in fliegender Eile an, dicke Wäsche. Lorle steht auch auf, hört und fängt zu weinen an. Dann, ich weiß gar nicht mehr richtig, stehen alle auf, die Großeltern, Papa. Ich koche Kaffee, mache alles verkehrt. Wir fangen an zu packen..."




Der Heidelberger Hans Oppenheimer war 19, als er nach Gurs deportiert wurde. Sein Tagebuch ist ein ergreifendes Dokument über das Leid eines jungen Mannes und seiner Familie. Hans Oppenheimer überlebte nur kurz die Vernichtungslager der Nazis. Kurz vor der Befreiung Buchenwalds durch die Amerikaner starb er. Im Lager Gurs schreibt er am 22. Oktober 1941 in sein Tagebuch:

"Den ganzen Tag schweifen meine Gedanken in die Heimat. Ein Jahr ist um. Ein Jahr der Erfahrung, Bitterkeit, aber manchmal auch froher Stunden. Ein Jahr schon, daß wir ausgestoßen wurden, hinweg von Heim und Hof. Warum? Weil man Jude ist. Unverständliches Argument! Was wird das zweite Jahr bringen? Rückkehr, Auswanderung oder trauriges Weitervegetieren hier in Frankreich? Wird es ein glückliches Wiederbeisammensein mit den Eltern bringen? Wer weiß? Doch wenn Dir das Herz auch bricht, zeig ein lachendes Gesicht. So will ich mutig in die Zukunft schauen und hoffen."




Der Mannheimer Kinderarzt Eugen Neter hatte sich freiwillig der Deportation seiner Glaubensgenossen angeschlossen. Er beschreibt das Massensterben im Winter 1940/41:

"...In den kalten Behelfsbaracken mit 30 bis 40 Durchfallkranken eine einzige Bettschüssel. Furchtbar war die Beschmutzung bei dem Mangel an Wäsche, unsagbar die dadurch körperlich und seelisch verursachte Qual... In jenen drei Monaten starben ungefähr weit über 600 Männer und Frauen. Viele starben in den ersten Monaten ohne nachweisliche Erkrankung; das Herz, der ganze Körper ertrug die Umstellung nicht und versagte. Ebenso der Lebenswille, der gebrochen war durch das Furchtbare der neuen, unerträglichen Umgebung..."




Der Heidelberger Dichter Alfred Mombert gehörte ebenfalls zu den Verschleppten. Der damals 68jährige nannte in einem Gedicht, das er in Gurs schrieb, das Lager "Baracken-Winter-Finsternis". In einem Brief an den Schweizer Hans Reinhard, der den Dichter im April 1941 freikaufte, schildert er sein Schicksal:

"...Abgesehen von einigen Köfferlein und Paketen, die zum Teil mit mir ankamen, musste Alles zurückbleiben. Die ganze Bibliothek, etc., etc. Also 'Alles'. Wohnung versiegelt durch Gestapo. Mitnahme von sage 100 Reichsmark... war gestattet. Ich mit meiner Schwester (72 Jahre alt) samt der gesamten jüdischen Bevölkerung Badens und der Pfalz (wahrscheinlich auch aus anderen Gebieten, samt Säugling und ältestem Greis (auch Kranke) ohne vorherige Ankündigung binnen einiger Stunden zunächst auf Lastwagen zum Bahnhof und dann mittels Extrazug abtransportiert ("entrückt"). Via Marseille - Toulouse zu den Basses Pyrénées, nahe der spanischen Grenze, in einem großen Internierungslager (Camp du Gurs). Bei dem riesigen und ganz plötzlichen Menschenandrang die Verhältnisse sehr schwierig und primitiv; kaum etwas zu kaufen. Ganz leichte Holzbaracken bei nächtlich kalter Witterung. Jedoch gute Luft (700 m Höhe). Man gibt sich anerkennenster Weise große Mühe, zu bessern, soweit möglich. Meine Schwester ist bei mir, aber getrennt in anderen Baracken. Die Zukunft ist völlig dunkel.

Wie lange wird dieser Zustand dauern können? Wie lange wird man unter den gänzlich ungewohnten primitiven Verhältnissen durchhalten können?

Ob Ähnliches je einem deutschen Dichter passiert ist?"
   
 

Gedenkstunde

  Am Sonntag, 22. Oktober, 18 Uhr, lädt Oberbürgermeisterin Beate Weber in den Großen Rathaussaal, Marktplatz 10, zu einer Gedenkstunde für die deportierten Heidelbergerinnen und Heidelberger jüdischen Glaubens nach Gurs vor 60 Jahren. Nach der Begrüßung durch die Oberbürgermeisterin wird Konrad Müller, Vorsitzender des Vereins "Begegnung" sprechen. Danach wird aus Briefen von Deportierten vorgelesen.

Bürgermeister Dr. Jürgen Beß wird, in Begleitung von Vertretern der jüdischen Gemeinde, am 29. und 30. Oktober den Deportiertenfriedhof in Gurs aufsuchen. An der alljährlichen Gedenkfeier dort nimmt immer ein Vertreter der Stadt teil.
   
 

Quellen

  Alle Informationen und Zitate stammen aus: Alfred Mombert (1872 - 1942), herausgegeben von Susanne Himmelheber und Karl-Ludwig Hofmann, Verlag Wunderhorn; Heidelberg unter dem Nationalsozialismus, herausgegeben von Jörg Schadt und Michael Caroli, C.F.Müller Verlag; Arno Weckbecker, Die Judenverfolgung in Heidelberg 1933 - 1945, C.F.müller Verlag; Jüdisches Leben in Heidelberg, herausgegeben von Norbert Giovannini, Jo-Hannes Bauer und Hans-Martin Mumm, Verlag Wunderhorn; Geschichte der Juden in Heidelberg, herausgegeben von Peter Blum, Schriftenreihe der Stadt Heidelberg, Guderjahn Verlag; Erinnertes Leben, herausgegeben von Norbert Giovannini und Frank Moraw, Verlag Wunderhorn.

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Stand: 17. Oktober 2000