Kultur

Ausgabe Nr. 14 · 7. April 1999

Brentano-Preisträger Norbert Niemann im Gespräch mit Matthias Schubert und Ulrike Hacker

"Streitkultur muss entstehen"

Norbert Niemann ist Träger des Clemens Brentano Preises 1999. Der 37-jährige Schriftsteller und Musiklehrer erhält den mit 20.000 Mark dotierten Förderpreis für Literatur der Stadt Heidelberg für seinen ersten Roman "Wie man’s nimmt". Matthias Schubert und Ulrike Hacker trafen den Brentano-Preisträger Mitte März in Frankfurt am Main.

?Form und Inhalt Ihres Buches lassen auf eine langjährige Auseinandersetzung mit ästhetischen und literarischen Gegenständen schließen. Wann hat sich Ihr Interesse für die Literatur geregt?

Norbert Niemann: Sehr spät. Ich bin in einem kleinen Kaff in Niederbayern aufgewachsen. Mein Rettungsanker war zunächst die Musik. Ich bin extrem popsozialisiert und wollte nichts anderes als Musiker werden. Gelesen habe ich während meiner Schulzeit wenig, lediglich ein wenig Theater gespielt: Das war meine erste Begegnung mit Literatur. Erste eigene Texte entstanden für die Band "Diebe der Nacht", mit der wir avantgardistisch aufgeblasene, deutschsprachige Rockmusik gemacht haben. Schließlich hat mich mein Vater zu einem Studium verdonnert. Aus der Not habe ich mich für Germanistik entschieden. Dank eines sehr guten Dozenten haben sich mir dann ungeahnte literarische Räume aufgetan.

?Ihre Magisterarbeit haben Sie über die Literatur der "Neuen Subjektivität", über Brinkmann, Peter Schneider, den frühen Strauß geschrieben. Gab es eine spezielle Neigung zu diesen Texten oder ging es - wie Ihr Roman vermuten lässt - auch darum, etwas abzuarbeiten?

Norbert Niemann: Ich wollte herausfinden, was ich an diesen Texten nicht mag. Das hat auch mit einem ödipalen Reflex zu tun: Für mich waren diese Autoren eine Art Vätergeneration. Es gab eine Phase, da bin ich mit Brinkmann-Augen durch die Welt gelaufen. Ich musste mich von dieser überzogenen Selbstdefinition, dieser alles bestimmenden "Ichigkeit" lösen.

?Nun hat "Wie man’s nimmt" auf den ersten Blick einiges mit "Neuer Subjektivität" zu tun. Sie erzählen die Geschichte von fünf Personen, die privat eng miteinander verbunden sind. Der Roman beginnt mit dem offenbaren Glück von Peter Schönlein und seiner Frau Christa. In diese Beziehung kommt eine Störung, und am Ende des Romans finden wir die Figuren in veränderten Strukturen wieder. Jeder hat einen anderen Platz inne als zu Beginn.

Norbert Niemann: Da muss ich Einspruch erheben. Um mit Brinkmann zu sprechen: "Die story ist schnell erzählt". Es geht um einen uralten Stoff: eine klassische Liebesverratskonstellation. Meine Idee war es, eine Art reziproker Madame Bovary zu schreiben. Das Buch erinnert vom Aufbau her eher an eine soap opera als an Texte der "Neuen Subjektivität".

?Tatsächlich ist den Figuren Ihres Buches die traditionelle Selbstversicherung nicht mehr möglich. Das ist die gravierende Zäsur, die das Buch markiert. Alle Vorstellungen von Authentizität, einem mit sich und anderen "identischen" Leben stellen sich als illusionär heraus.

Norbert Niemann: Die Identitätsfrage ist ja zutiefst verbunden mit der abendländischen Philosophie. Die Problematik besteht - wie der Blick in andere Kulturen zeigt - aber ganz ohne diesen Begriff. Dem Phänomen, dass Menschen zwischen wirklicher und medial vermittelter Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden können, begegnet man auch in vollkommen anderen Zusammenhängen. Um es aber historisch zu beschreiben: Als ich achtzehn war, war die "Neue Subjektivität" vollkommen en vogue. Es war die Zeit der Bürgerinitiativen, die Grünen kamen in die Parlamente — das war identitätsstiftend. Auch der Punk und die Neue Deutsche Welle haben aus diesem Alternativdenken heraus gelebt. Die unterste Schicht meiner Figuren hat so betrachtet schon mit "Neuer Subjektivität" zu tun. Jetzt aber sind sie alle über dreißig, die achtziger Jahre liegen hinter ihnen. Sie haben die Diskurse der Postmoderne internalisiert. Sie können sich nicht mehr glauben, aber es ist noch die Sehnsucht da, eine Sehnsucht, die alles grundiert.

?Die Figuren haben also nur nachvollzogen, was vorgegeben war?

Norbert Niemann: Sie haben versucht, Alternativen zu verwirklichen. Doch jetzt sind sie an einem Punkt in der Realität angekommen, an dem bestimmte Dinge beginnen abzubröckeln. In meinem Roman wird das Projekt der Selbstfindung ad absurdum geführt. Die Versatzstücke stehen einfach nebeneinander. Die einzige Verbindung zwischen ihnen ist der Schmerz, damit nicht weiterzukommen.

?Die Figuren Ihres Buches tragen auf je eigene Weise alte Ansprüche an die neue, offenbar veränderte Wirklichkeit heran. Bei Peter Schönlein ist es der bildungsbürgerliche Hintergrund, bei seiner Frau Christa die gesellschaftspolitische Orientierung. Am stärksten indes vertritt diesen Anspruch Mattias Boker mit seiner Leidenschaft für Lessing. Welche Rolle spielt Lessing in Ihrem Buch? Ist es der Versuch, der medialen Welt - noch einmal — mit den Argumenten der Aufklärung entgegenzutreten?

Norbert Niemann: Lessing stellt die eigentliche Bruchstelle in der Entwicklung zu einer Literatur dar, wie wir sie bis heute kennen oder wie wir sie bis vor kurzem gekannt haben. Er war der erste freie Schriftsteller, und seine Bedeutung geht wesentlich über die des Aufklärers hinaus. Was die Welt bis dahin zentral beschäftigte, war die Theologie. Mit Lessing fängt etwas Neues an, Intellektualität und Geistigkeit werden auf eine andere Ebene übertragen. Gleichzeitig wollte Lessing aber auch etwas bewahren. Diese Position sehe ich im scharfen Kontrast zu den Rechtsintellektuellen in der deutschen Literatur. Ich will zeigen, dass es - im Sinne des Aufklärers und Erneuerers Lessing - tatsächlich auch etwas zu bewahren gibt. Dazu gehört für mich die bürgerliche Öffentlichkeit und die sie immer schon grundierende Subkultur. Die postume Mythisierung zu so genannten Klassikern blendet das ja meistens aus.

?Auffallend ist, dass Ihre Figuren Erkenntnisse gewinnen, die nicht Resultate beharrlicher Reflexionen sind, sondern jäh aufscheinen — in Momenten plötzlichen Begreifens...


Norbert Niemann: ... die aber immer verbunden sind mit einer tiefen kommunikativen Erfahrung. Kommunikation ist die Voraussetzung dafür, dass der Prozess der Erkenntnis in Gang kommt. Ganz verkürzt: Ich halte es für notwendig, dass Menschen diese direkte Auseinandersetzung suchen, dass wieder eine Streitkultur entsteht. Es muss etwas geben, was an die Menschen wirklich heranreicht, was ihnen ihren Schmerz fühlbar macht. Der Schmerz ist eine ganz wesentliche Kategorie in meinem Buch: Im Schmerz brechen diese Endlosschleifen auf, die Sprecher verstummen. Was zurückbleibt, ist ein transzendentales Loch, ein in Schwingung versetztes Schweigen. Das ist es, was mich interessiert.
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Stand: 6. April 1999