Dokumentation

Ausgabe Nr. 38 · 19. September 2001



Gedenkveranstaltung für die Terroropfer in den USA am 16. September auf dem Bismarckplatz. (Foto: Alex)

"Terrorismus ist die Waffe der Schwachen"

Die Rede von Jakob Köllhofer auf dem Bismarckplatz im Wortlaut


Zahlreiche Menschen gedachten am vergangenen Wochenende der Opfer der Terror-Anschläge in den USA. Bei einer Gedenkveranstaltung am Sonntag auf dem Bismarckplatz sprach der Leiter des Deutsch-Amerikanischen Instituts, Jakob Köllhofer. Das STADTBLATT dokumentiert seine Rede leicht gekürzt.

"Bürger und Bürgerinnen von Heidelberg!
Am 11. September - soviel weiß man jetzt - haben 19 Individuen mit Messern die Weltmacht USA provoziert, wie es noch keine Macht auf diesem Globus gewagt hat. 19 Personen haben gut organisiert in präzisem Timing die mächtige USA ins Herz ihres Selbstverständnisses getroffen und die Wahrzeichen für Sicherheit und Wirtschaftsmacht zerstört. 19 Attentäter mit ein paar scharfen Klingen, technischem Wissen und kaltblütigster Entschlossenheit. Keine Superwaffen, keine Bomben, keine aufwendigen Apparate. 19 gut präparierte, fanatisch hassende Selbstmörder.

Ein Chemiker hätte kein gefährlicheres Gemisch zusammenbrauen können. Obwohl unübersehbare Signale seit Jahren vorlagen, ja das Furchtbare sogar am WTC schon in einem ersten Probelauf demonstriert worden war, die USA konnten sich das, was da passierte, nicht vorstellen und ihre Vorkehrungen einbauen. Auch wenn ein Bestseller-Autor dieses Szenario bis ins Detail vor Jahren schon beschrieben hatte. Dieses USA sind noch nie auf ihrem Festland dermaßen angegriffen worden. Ist den USA daraus ein Vorwurf zu machen, wenn sie es ablehnen, solcher Perfidie eine Chance auf Realität zu geben? Wer möchte da nun den besser wissenden Ratgeber spielen?

Amerika liegt in einem Trauma. Es ist wichtig, den amerikanischen Bürgern und Bürgerinnen deutlich zu machen, dass sie in dieser Stunde auf uns zählen können, dass wir fest und loyal zu ihnen stehen. Dass sie ruhig und mit klarem Kopf auf diese Herausforderung reagieren können. Wer das Entsetzen der ersten Stunde gesehen hat, die Verzweiflung, wer die Schmach und die Ohnmacht, die diese Herausforderung beinhaltet, sich vorstellt, der ahnt, wie erstaunlich, wie bewundernswert Besonnenheit und Reife sind, mit der die New Yorker mit dieser Katastrophe umgehen. Ich möchte hier laut bekennen, ich würde mich gern einen New Yorker nennen.

Im Laufe der vergangenen fünf Tage schwappte eine Welle der Sympathie für das verwundete Amerika über unser Land und auch über unsere Stadt. Ungewöhnlich spontane Anteilnahme loderte auf, Kerzen brannten und brennen noch immer, Blumen, liebenswürdige Bekenntnisse von Kindern und Erwachsenen haben uns erreicht, hiesige Feuerwehrleute haben binnen weniger Stunden eine unglaubliche Summe zur Unterstützung der Familien ihrer betroffenen Kollegen zusammengetragen, auch der ökumenische Gottesdienst hat eine große Summe für die Unterstützung der Opfer gebracht.

Keine Geste, die da nicht genutzt worden wäre, unseren amerikanischen Freunden klar zu machen: Wir fühlen mit euch! Es geht auch um unsere Werte, es geht um das gemeinsame Fundament. Und die amerikanischen Mitbürger waren zutiefst beeindruckt von der Selbstverständlichkeit und der Spontaneität dieses Mitgefühls. Wenn jemand ein Leid widerfährt, ist nicht guter Rat, sondern zunächst einmal Mitgefühl gefragt, und das wurde hier in beeindruckender Weise vermittelt. Die wissen, wo wir stehen. Das ist die erste und wichtigste Botschaft, die man Menschen in solcher Verunsicherung zu geben hat. Und ich denke, vielen ist diese Anteilnahme besonders leicht gefallen, angesichts der Reife und Ernsthaftigkeit, mit der die New Yorker sich in dieser Katastrophe der Welt zeigten.

Nun sind fünf Tage seit dem verhängnisvollen 11. September vergangen. Die anfängliche Lähmung ist gewichen. Unsere Distanz macht uns allmählich wieder fähig, uns rational mit dieser Tragödie auseinander zu setzen. Wir beginnen, präzise Worte für das Unbeschreibliche zu suchen. Wir suchen uns, von den ausgegebenen Schlagzeilen zu befreien und eigene Worte der Erklärung zu finden. Fragen drängen sich auf. Fragen an die Schlagzeilen der ersten Tage, die Kraftworte, die vielleicht zu großen Worte, die aus dem Schock, aus der Ohnmacht geboren wurden, die zwar ehrlich gemeint, aber doch verwirrend auf uns nieder gingen, so als hätte man in Ermangelung treffenderer Begriffe einfach nur die drastischen genommen.

Man hatte gelegentlich den Eindruck, dass die horrende Herausforderung sprachlich nicht zu bewältigen war, Solch ein Umstand birgt seinerseits höchste Gefahren ins sich. Und in der Tat, es gibt eine Menge Trittbrettfahrer, die sich das offizielle oder auch nur medial verbreitete Vokabular zu Eigen machen. In diesem Rahmen hat auch jeder unselige Buchtitel vom "Clash of Civilizations" die Runde gemacht. Dass das klar ist: Bei diesem Terrorakt kam es zu keinem Zusammenprall der Kulturen. Der Islam ist nicht weniger friedlich als das Christentum. Der Islam ist keine Lehranstalt für Selbstmörder. Der Islam gehört zu dem, was wir "zivilisierte" Welt nennen. Es ist gefährlich, so leichtfertig, so verallgemeinernd mit solchen Ereignissen umzugehen. Und wenn Sie mich fragen, was wir tun können, so antworte ich ihnen: Kümmern wir uns gerade jetzt um die Moslems in unserer Gesellschaft, denn sie müssen ganz besonders von dem betroffen sein, was man mit ihrem Glauben und im Namen ihres Glaubens an Grausamkeit, an Entsetzen angerichtet hat.

Viele von uns meinen, dass nach dem 11. September nichts mehr so sein wird, wie es einmal war. Eine neue Zeitrechnung habe angebrochen. Es könnte auch anders kommen, und davor graust mir fast noch mehr. Es könnte ja sein, dass nach der Ohnmacht, nach den freundlichen Gesten, alles wieder seinen normalen Lauf nimmt, allmählich das Gras des Alltagstrotts wieder üppig wächst und uns alle in einer Stumpfheit und Gleichgültigkeit präsentiert, die dann eine noch größere Schreckenstat nach sich zieht. Und dabei wäre es den Menschen nicht einmal übel zu nehmen, wenn sie jetzt versuchen, im Vergessen, im Verdrängen ihr Gleichgewicht wieder zu finden. Aber was hieße das für das Leid der Opfer und ihrer Angehörigen, in welchem Licht stünden dann unsere Kerzen und Blumen? Und wer könnte sagen, dass er wirklich gegen den Terror ist?

Das Gute, das vielleicht einzige Gute der unglaublichen Ereignisse in New York und Washington könnte darin liegen, dass wir lernen, dass wir Menschen unser Leben ändern können. Ich hoffe also, dass sich diese grausigen Bilder sich aus unserem Gedächtnis nicht allzu schnell verflüchtigen. [...]

Wir müssen hier in unserem Leben die Weichen anders stellen. [...] Ich möchte jeden und jede von Ihnen bitten, sich Ihren Terminkalender vorzunehmen und genau zu studieren, um jene drei Stunden pro Woche loszueisen, die sie von nun an auf lange Sicht der Gesellschaft geben, um ihre Werte durch Engagement stark zu machen, Werte, die die "zivilisierte" Gesellschaft konstituieren. Das, was sich auf den ersten Blick hin als Schwäche unserer offenen Gesellschaft offenbart hat, das ist doch eigentlich gerade ihre Stärke. Denn was macht denn die Prinzipien unserer Gesellschaft aus, wenn nicht Menschenwürde, Gerechtigkeit, Rechtsstaatlichkeit und Freiheit? Gibt es etwas Attraktiveres für irgendeinen Menschen auf dieser Welt als das Angebot seiner Achtung? Und da, das muss uns allerdings klar sein, haben wir bei uns selbst noch einiges zu tun, bis diese Botschaft überall glaubwürdig rüber kommt. [...]

Wir müssen uns genau mit dem auseinander setzen, was vorgefallen ist und begreifen lernen, was hieran so unvergleichlich ist. Uns muss klar werden, was es heißt, wenn der Staat sein Gewaltmonopol verliert, wenn Gewalt privatisiert wird. Wir müssen die Böden untersuchen, wo solcher bis zum Selbsttod erstarrter Hass wächst. Wir müssen unsere politischen Entscheidungsträger nach der langfristigen Gewichtung ihrer Arbeit bewerten. Wir müssen uns selbst immer wieder fragen, ob das, was wir tun, auch für den Rest der Welt gut ist. Wir müssen uns einsetzen für die Gedemütigten, die Chancenlosen, die Wehrlosen. Denn die Hoffnungslosigkeit treibt Menschen zu solchen fanatischen Taten. Terrorismus ist die Waffe der Schwachen.

Bei diesen Worten könnten Sie auf den Gedanken kommen, dass es sich hier um die gewohnte Predigt für die Liebe des Menschen zu seinen Mitmenschen handelt, ist es nicht! Ich sage Ihnen das, weil ich glaube, dass Sie/wir das tun müssen, wenn Sie, wenn wir überleben wollen. [...]

Denken Sie nur, wohin uns kurzfristige und vielleicht auch kurzsichtige Interessen im Rahmen jener angeblich unabänderlich macchiavellistischen Welt der Politik führt, wenn die Interessen sich in einer Welt formulieren, die sich so rasend wie die unsrige verändert, wo das, was gestern galt, heute in sein Gegenteil verkehrt wird. Wo ich einem gestern Waffen gebe, damit er meine Interessen stützt und er sie morgen gegen mich wendet. Wir brauchen auch hier Nachhaltigkeit, nachhaltige Sicherung jener Werte, die die zivilisierte Welt ausmachen. Wir müssen uns den Stärken unserer offenen Gesellschaft hinwenden, den Stärken, die wir aus der Achtung des Anderen schöpfen. Dagegen kommt kein Terrorismus an.

Ich gehe davon aus, dass Sie das alles wissen. Unsere so genannte Informationsgesellschaft weiß ja viel und vielleicht so viel wie noch kein Zeitalter zuvor. Aber genügt das? Das Wissen muss auch unser tagtägliches Leben beeinflussen. Wir müssen es tagtäglich einüben. Was wir die Grundprinzipien der so genannten zivilisierten Gesellschaft nennen, was wir Humanismus nennen, will eingeübt werden. In der Erziehung muss alle Fertigkeit zur überzeugenden Verteidigung dieser Werte gefördert werden. Tagtägliches Einüben will ermutigt und immer wieder getestet werden.

So und nur so helfen wir den Menschen, an deren Seite wir in diesen Stunden in Gedanken stehen. Nur so macht das Vorbild, was uns die New Yorker mit ihrer Besonnenheit geben, Sinn, als Handlungsanweisung für die amerikanische Regierung und als einen Weg für den Rest der Welt. Ich bewundere die New Yorker, wenn sie sich unpathetisch als Freiwillige melden, wenn sie am Union Square zusammenstehen - Christen, Muslime, Juden, Buddhisten, Shintoisten, Atheisten, Schwarze, Weiße, Asiaten, Indianer - und ernst eine Form der Auseinandersetzung mit jenen zynischen Terroristen fordern, mit der eine zivilisierte Gesellschaft sich ihres Namens würdig erweist. Ich bewundere die Überzeugungskraft der einfachen Bürgerinnen und Bürger New Yorks inmitten einer Tat, die jede Form der Empörung verständlich machen würde.

Ich ahne nur, warum gerade New York sich so souverän, sich so reif zeigen kann. New York ist in Kleinformat die gesamte Welt. Man lernt dort miteinander leben, miteinander auskommen. Das geht nicht ohne Probleme, oft sogar großen Schwierigkeiten, aber das Modell hat sich bewährt. Und das sollte uns allen - in der weiteren, der größeren Welt - Hoffnung sein in unserem Bemühen um die Stärke und Überzeugungskraft der Werte der zivilisierten Welt."

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Stand: 18. September 2001