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Ausgabe Nr. 3 · 15. Januar 2003



Sorgten für einen beschwingten Rahmen des Neujahrsempfangs: die Sängerinnen und Sänger der Chöre "The Fine Artists" und "Glee Club Ziegelhausen". (Foto: Rothe)




Oberbürgermeisterin Beate Weber überreicht Blumen an Gastrednerin Heike Schmidt. (Foto: Rothe)

"Auf fünf wichtige Herausforderungen einstellen"

Rede der Oberbürgermeisterin Beate Weber zum Neujahrsempfang der Stadt Heidelberg im Kongresshaus Stadthalle


Der diesjährige Neujahrsempfang der Stadt Heidelberg am 12. Januar begann mit einem stillen Gedenken. Die zahlreichen Gäste erhoben sich zu einer Gedenkminute für die drei ermordeten Menschen in Ziegelhausen. Oberbürgermeisterin Beate Weber sprach den betroffenen Familien ihr Mitgefühl aus. "Ich hoffe sehr, dass es Staatsanwaltschaft und Polizei bald gelingt, den oder die Täter zu fassen und der gerechten Bestrafung zuzuführen", sagte sie.

Nachfolgend die Ansprachen der Oberbürgermeisterin und der Gastrednerin Heike Schmidt (siehe Seite 3) in Auszügen: "(...) Wenn man manchen Schlagzeilen und Beiträgen zum Jahresende glauben kann, dann war 2002 "ein Jahr, das den Optimismus fortspülte" und dann wird 2003 das "Jahr der Risiken". Die Deutschen haben Angst vor der Zukunft. Sechs von zehn Bundesbürgern befürchten binnen Jahresfrist ein Absinken ihres Lebensstandards. Ein Jugendlicher aus Erfurt bringt es auf den Punkt: "Man sieht keinen Menschen mehr, der irgendwie lächelt. Die kalte Gesellschaft hat den kalten Krieg abgelöst". Neueste Umfragen scheinen diese Meinung zu bestätigen: Mehr als die Hälfte der Befragten findet, alles sei in Unordnung geraten (...)

(...) Doch es gibt auch andere: Sie schreiben und reden von der "Stillstands-Lüge" und begründen sehr einleuchtend, warum dieses Land auf keinen Fall unmittelbar vor dem Untergang steht. (...)

(...) Wir haben allen Grund, über unsere Lage nachzudenken aber sie auch realistisch mit der anderer Menschen und Länder zu vergleichen und uns dann auf fünf wichtige Herausforderungen einzustellen:

Herausforderung Nr.1: Die Erhaltung des Friedens
(...) Ein möglicher Krieg gegen den Irak macht uns große Sorge! Wird die "Büchse der Pandora" geöffnet? Ist dieser Krieg dann sogar die Ouvertüre für einen langandauernden Weltreligionskrieg? Ein Krieg im Irak kann doch beim besten Willen nicht ein Weg zum dringend notwendigen Frieden im Nahen Osten sein.

(..) Unsere Aufgabe ist es, die wunderbare Chance zu nutzen, unser wieder zusammenwachsendes Europa zu sichern, die Demokratien zu stabilisieren - Wirtschaft, Umwelt und sozialen Zusammenhalt auch in den östlichen und südöstlichen Ländern unseres Kontinents zu fördern. Dies (...) wird sich sicher auszahlen. (...)

Dabei dürfen die Staaten des westlichen Balkans nicht aus dem Blick geraten. (...) Auf Wunsch der Konrad-Adenauer-Stiftung in Sarajewo habe ich - wie bereits 1994 zu Zeiten von Hans Koschnick - unsere Unterstützung beim Wiederaufbau der Verwaltung zugesagt. Diese Beratung durch unser Personal- und Organisationsamt und unser Vermessungsamt hat im vergangenen Jahr erfolgreich begonnen. Geplant ist auch die Erarbeitung eines Umweltplans und ein Beitrag von Künstlern aus Heidelberg im "Kultursommer 2003" der Stadt Mostar. (...)

Herausforderung Nr. 2: Die Arbeitslosigkeit
Es bedarf einer großen gemeinschaftlichen Anstrengung von Wirtschaft und Politik, um auch in diesen wirtschaftlich schwierigen Zeiten die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Es geht nicht nur um eine schnellere und effizientere Vermittlung in neue Stellen, sondern auch darum, neue Beschäftigungsmöglichkeiten in den Dienstleistungsberufen und neue Möglichkeiten auf Selbständigkeit und Existenzgründung zu eröffnen, denn alle Institutionen bauen gegenwärtig unter dem Kostendruck bestehende Arbeitsplätze ab - auch die Verwaltungen.

Es geht darum, den Sozialstaat zu erneuern und Wachstum zu erreichen, ohne die soziale Sicherheit preiszugeben. (...)

Herausforderung Nr. 3: Schule und Bildung
(...) Spätestens die PISA-Studie, aber schon andere Studien zuvor, müssten uns wachgerüttelt haben. Sie haben das Mittelmaß in deutschen Klassenzimmern an den Tag gebracht. Der rot-grüne Koalitionsvertrag fordert "bessere Bildung für alle" - ich fordere "Bildung muss zur Chef- beziehungsweise Chefinnensache, insbesondere der Länder, gemacht werden".

(...) Wir brauchen Schulen, die nicht nur Wissensvermittler in einer Wissensgesellschaft sind. Wir brauchen Schulen, in denen die Kinder soziales und demokratisches Miteinander einstudieren, in denen sie einen "Bürgerschein" machen, um als Erwachsene ihre Zukunft selbstbewusst und verantwortungsvoll mitgestalten zu können. (...)

Herausforderung Nr. 4: Die alternde Gesellschaft
(...) In Baden-Württemberg hat zum Jahresende 2000 erstmals seit Bestehen des Landes der Bevölkerungsanteil der älteren Generation (60-Jährige und Ältere) mit rund 23 Prozent den Anteil der nachwachsenden Generation (unter 20-Jährige) von etwa 22 Prozent übertroffen. Es ist damit zu rechnen, dass zwischen 2030 und 2050 die unter 20-Jährigen nur etwa halb so stark in der Landesbevölkerung vertreten sein werden wie die 60-Jährigen und Älteren. (...)

Für Heidelberg wird bis 2010 eine weniger drastische Entwicklung prognostiziert. (...) Es wird sich in Heidelberg jedoch auch die Zahl der Kinder und Jugendlichen unter 20 Jahren weiter verringern von derzeit 16,7 Prozent auf 15,9 Prozent im Jahr 2010. (...) Durch die Universität erfolgt in Heidelberg allerdings eine stetige Verjüngung der Bevölkerung. (...) Das ändert aber am grundsätzlichen Problem der Überalterung der Bevölkerung nichts, schon gar nicht wenn man über Zeiträume von 20 bis 30 Jahren nachdenkt. (...)

Wichtig wird auf jeden Fall schon heute die Diskussion sein, ob die gegenwärtigen Investitionen in die städtische Infrastruktur den bevorstehenden demografischen Entwicklungen gerecht werden. Brauchen wir so viele Straßen und Autobahnen, geplant mit einem 50-jährigen Zeithorizont - für eine Generation, die vielleicht sicherer mit Bus und Bahn unterwegs sein will? Brauchen wir Wohn- und Einkaufsgebiete auf der grünen Wiese, die für mobilitätsbehinderte Menschen überhaupt nicht mehr zu erreichen sind? (...)

Ich denke hierbei natürlich auch an den Ausbau der Straßenbahn, zum Beispiel die Strecke nach Kirchheim. Ist es nicht unsere Pflicht, hier auch an die Generation zu denken, die in 10, 20 oder 30 Jahren diese barrierefreie Anbindung an die Innenstadt für ein selbstbestimmtes Leben im Alter dringend benötigt? (...)

Herausforderung Nr. 5: Nachhaltige Entwicklung
Dass die nachhaltige Entwicklung in besonderem Maß eine Aufgabe für die Städte und Gemeinden ist, haben die "Local Government Session", an der (neben mir) über 600 Bürgermeister/innen und Gemeinderäte aus aller Welt teilnahmen, und der Weltgipfel über Nachhaltige Entwicklung (beide Konferenzen fanden im vergangenen Jahr in Johannesburg/Südafrika statt) deutlich gemacht. "Local Action moves the World" - Nachhaltige Kommunalpolitik bringt die Welt voran. Jetzt ist es Zeit zu handeln. (...)

Heidelberger Haushalt 2003
(...) Bei der Einbringung dieses Haushaltes im November 2002 habe ich bereits deutlich zum Ausdruck gebracht, dass trotz der angespannten finanziellen Lage der Schwerpunkt "Kinder und Jugendliche" gesetzt werden muss. "Schule ist der Lernort der Demokratie" - habe ich bereits als eine der Herausforderungen der Zukunft definiert. Genau aus diesem Grund sind die Investitionen in Kindergärten, Schulen und Freizeiteinrichtungen sowie die Sozialarbeit mit Kindern und Jugendlichen so wichtig. (...)

Bildungsoffensiven gehören zu dringend notwendigen Maßnahmen gegen die Jugendarbeitslosigkeit. Bildung eröffnet Chancen, Bildung bietet Lebensqualität, Bildung ist Zukunft und Bildung schützt vor Arbeitslosigkeit, was jüngst veröffentlichte Zahlen im IHK-Wirtschaftsmagazin Rhein-Neckar beweisen. (...) Deshalb begrüße ich es sehr, dass die IHK das Jahr 2003 zum "Jahr der Aus- und Weiterbildung" gemacht hat und eine Offensive für Wissen und Leistung startet.

Wichtige Stadtentwicklungsprojekte
(...) Eine besondere Herausforderung der nächsten Jahre wird die Entwicklung der "Bahnstadt". Sie wird Wohnraum für rund 5.000 Menschen bieten. (...) Außerdem bietet ein solch neuer Stadtteil unendlich viele Chancen für eine wirklich zukunftsfähige Gestaltung. (...)

(...) Dazu gibt es große Aktivitäten im Zusammenhang mit der Fortschreibung des Verkehrsentwicklungsplanes. Den Beginn macht der Tunnel am Hauptbahnhof bis nördlich der Bergheimer Straße, der sogenannte Burelli-Tunnel. Unser Ziel muss es sein, mit dem Bau spätestens Ende 2004 beginnen zu können, damit er zusammen mit dem Konferenz- und Kongresszentrum fertig wird. (...)

(...) Für die beiden Tunnelmaßnahmen Wieblingen/Neuenheimer Feld oder Neckarufertunnel muss der Gemeinderat eine weitere Entscheidung treffen. In diesem Zusammenhang wird auch festzulegen sein, auf welcher Trasse die Straßenbahn in die Altstadt fährt.

Worüber ich zum Jahresbeginn 2003 besonders froh bin, ist die Tatsache, dass die US-Army von ihren großen Erweiterungsplänen im Bereich von Patrick-Henry-Village Abstand genommen hat. Bei meinen Gesprächen mit Colonel Rush hatte ich schon früh den Eindruck gewonnen, das die US-Army die Sorgen der Stadt und die der Landwirte ernst nimmt. (...) In dieser Woche hat mir Colonel Rush mitgeteilt, dass auch der Antrag auf eine 20 Hektar-Erweiterung des Flughafengeländes schon zurückgezogen ist.

Jahr der Menschen mit Behinderungen
Der Rat der Europäischen Union hat das Jahr 2003 zum Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen erklärt. (...) Auch die Stadtverwaltung beteiligt sich mit Veranstaltungen und Maßnahmen am Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen. Wir haben uns deshalb entschlossen, zu unserem diesjährigen Neujahrsempfang möglichst viele Menschen mit Behinderungen einzuladen. (...)

Ich wünsche Ihnen, dass Sie zuversichtlich ins Neue Jahr gehen. Alles erdenklich Gute für 2003!"
   
 

(Die ungekürzte Rede finden Sie im Internet unter www.heidelberg.de/Rathaus.)


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"Abbau der Barrieren im Geist"

  Gastrede von Heike Schmidt, einer Mitbegründerin des BIBEZ


Gastrednerin Heike Schmidt ist seit 1980 durch eine Virusinfektion pflegebedürftig und an den Rollstuhl gebunden. Sie studierte in Heidelberg Psychologie, betreibt eine Praxis als psychologische Psychotherapeutin und gründete 1992 mit anderen Frauen das BIBEZ (Bildungs- und Beratungszentrum zur Förderung und Integration behinderter kranker Frauen und Mädchen e.V.). Ihre Rede in Auszügen:

Ein wenig habe ich das Gefühl, heute als so etwas wie eine Vorzeigebehinderte hier zu stehen. Und das ist für mich eher ambivalent besetzt. Allerdings weiß ich nicht, ob ich in einer anderen Stadt persönlich und beruflich erreicht hätte, was ich heute hier erreicht habe. (...)
Sie, Frau Weber, haben seit Ihrem Amtsantritt stets ein großes Augenmerk auf die Belange der in Heidelberg (...) so zahlreichen Menschen mit Behinderung gelegt. Sie stehen für ein politisches Klima, in dem die Integration und Förderung dieser Menschen im städtischen, sozialen und beruflichen Umfeld allen Bürgerinnen und Bürger (...) nahegebracht und erleichtert wird.

(...) Was kann ich Ihnen ganz allgemein mit auf den Weg geben, in diesem Jahr der Menschen mit Behinderung? Ich kann nur für mich selbst sprechen. (...) Aber genau darin könnte vielleicht die Kernaussage liegen: Legen Sie mehr Augenmerk auf individuelle, den Bedürfnissen und Ressourcen der einzelnen Menschen gerecht werdende Lösungen.

(...) Man muss auch auf Stadt- oder Gemeindeebene damit beginnen, die nächste Stufe der Barrierefreiheit anzugehen: den Abbau der "Barrieren im Geist". Nicht nur Gesetze, auch Köpfe müssen durchforstet werden, um alte, überholte Sichtweisen von Menschen mit Behinderungen als im Sinne einfacherer "Verwaltbarkeit" möglichst "standardisierte" Objekte auszutauschen durch eine flexible Sicht dieser Menschen als das, was sie sind: Menschen, Individuen, mit einer eigenen Würde, individuellen Zielen, persönlichen Bedürfnissen. Aber eben auch mit Ressourcen und Fähigkeiten, die nicht an der Entfaltung gehindert werden dürfen. (...)

Mein Wunsch für das neue Jahr wäre, dass Heidelberg den konsequenten Kurs der integrativen, barrierefreien Politik fortführt, indem nicht nur weiter an der Beseitigung baulicher Barrieren, sondern auch intensiv an der Beseitigung der "Barrieren im Geist" gearbeitet wird.

Denn: alle Menschen mit Behinderung sind anders. Vor allem aber sind sie in vielen Bereichen erheblich flexibler als die Normen und Gesetze, die für sie erschaffen wurden."

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Stand: 14. Januar 2003