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Thema der Woche

Ausgabe Nr. 3 · 16. Januar 2002



Oberbürgermeisterin Beate Weber mit dem Gastredner beim Neujahrsempfang, Dr. Friedrich von Bohlen. (Foto: Rothe)




Musikalische Akzente beim Neujahrsempfang setzten der Posaunenchor an der Kreuzkirche in Wieblingen unter Leitung von Georg Bießecker und die "Swinging Sounds". (Foto: Rothe)

"Bildung und Erziehung neu als gesellschaftliche Aufgabe begreifen"

Neujahrsempfang: Europa, PISA und der Haushalt 2002 standen im Mittelpunkt der Rede von Oberbürgermeisterin Beate Weber


Beim traditionellen Neujahrsempfang der Stadt Heidelberg am vergangenen Sonntag in der Stadthalle widmete sich Oberbürgermeisterin Beate Weber den Themen Europa, PISA-Studie und dem Haushalt 2002. Gastredner war der Vorstandschef von Heidelbergs bekanntestem Gentechnologie-Unternehmen LION bioscience, Dr. Friedrich von Bohlen.

In diesem Jahr wurden besonders Personen eingeladen, die ehrenamtlich bei der Akademie für Ältere aktiv sind. Auch Jugendliche aus allen Stadtteilen, die sich an der Aktion "72 Stunden ohne Kompromisse" im vergangenen Jahr beteiligt hatten, waren eingeladen, als Anerkennung für ihr Engagement. Nachfolgend die Ansprache der Oberbürgermeisterin und die Neujahrsrede von Dr. Friedrich von Bohlen (Seite 3) in Auszügen:

"(...) Der Jahreswechsel wurde ganz klar von zwei Themen bestimmt: Eis und Euro. (...) Von den Widrigkeiten des Wetters ließ sich der Euro nicht beirren. Alle Fernseh- und Rundfunknachrichten und alle Schlagzeilen hatten eine gleichlautende Botschaft: Der Euro ist gelandet - besser als erwartet. Sogar die lange Zeit skeptischen Deutschen verfielen rasch in eine regelrechte "Europhorie"!...

(...) "Wir brauchen ein Europa, das für mehr Bürger besser verständlich ist", so Bundeskanzler Schröder in seiner Regierungserklärung am 12. Dezember 2001. "Die Menschen müssen wissen, wo, wie und warum die Europäische Union ihr tägliches Leben beeinflusst. Vor allem müssen sie bei jedem Schritt überzeugt sein, dass die europäische Lösung die für sie bessere Lösung ist. Sie wollen - und das entspricht klaren demokratischen Grundsätzen - nachvollziehen können, wer für welche Entscheidungen die Verantwortung trägt."

(...) Natürlich muss auch die Bedeutung der Städte und Gemeinden in der Europäischen Union dringendst gestärkt werden. Dies hat die EU-Kommission in einem Weißbuch über das europäische Regieren ausdrücklich angemahnt. Vielleicht gibt die Erweiterung der EU den Kommunen die Chance, gemeinsam mit den Kommunen in den Beitrittsländern diese Stärkung der Mitwirkung endlich herbeizuführen. (...)

PISA-Studie
Erlauben Sie mir, dass ich an dieser Stelle auf die viel diskutierte PISA-Studie eingehe. (...)

Wie Sie wissen, hatten die Ergebnisse des ersten Testzyklus ... für Deutschland erschreckende Ergebnisse: schwache Lesekompetenz, soziale Selektion und ein großes Qualitätsgefälle wird den deutschen Schülern bescheinigt bei gleichzeitig unzureichender Spitzenleistung.

In keinem anderen Industrieland ist die soziale Herkunft so entscheidend über den Schulerfolg wie in Deutschland. Rund 20 Prozent der 15-Jährigen in Deutschland können einfachste Aufgaben auf Grundschulniveau nicht lösen, solche Lücken kann man später kaum noch ausgleichen. Die Förderung der Ausländerkinder ist schlechter als in anderen Ländern, ob im Kindergarten oder in Schulen.

50% der Zeit in deutschen Schulen wird, erlauben Sie mir den Ausdruck, "vergeudet", um die Kinder und Jugendlichen zu motivieren, zu ermahnen, zur Konzentration zu bewegen. In Finnland sind es beispielsweise nur 10%.

(...) Wenn wir im globalen Wettbewerb auf Dauer bestehen wollen, müssen wir unseren Kindern viel mehr Aufmerksamkeit schenken. Wenn Unterricht in manchen Klassen nicht mehr möglich ist (siehe Zahlen oben), dann stimmt einiges nicht. Wir sind als Stadt eingesprungen angesichts solcher Signale, obwohl Bildung und Erziehung nicht unsere Angelegenheit sein sollte...

Wir haben ein recht gut ausgebautes Fördersystem: Wir bieten schulische und außerschulische Sprachförderung von jungen Ausländern und Spätaussiedlern an, was durch freie Träger ergänzt wird. Auch die städtischen Kindertagesstätten fördern Kinder gezielt vor dem Wechsel in die Grundschule und haben ein erweitertes Betreuungsangebot im Rahmen der verlässlichen Grundschule. Derzeit nehmen über ein Viertel aller Kinder in Heidelberger Grundschulen die angebotene Betreuung in Anspruch und die Anmeldungen nehmen ständig zu. Ab Anfang diesen Jahres werden wir Schulsozialarbeit in allen Heidelberger Haupt- und Förderschulen durchführen, ähnlich wie in dem erfolgreichen Modell an der Grundschule Emmertsgrund. Unser Anteil an Ganztagesbetreuung von Kindern bis 10 Jahren übersteigt weit den Landesdurchschnitt. Wir richten Ganztageshauptschulen ein, wie bereits an der Geschwister-Scholl-Schule und in Vorbereitung an der Waldparkschule.

Das Recht auf Förderung ihrer Entwicklung und der Erziehung zu eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten steht unseren jungen Menschen zu. "Schule müssen wir uns alle neu ausdenken" ist das Motto des neuen Vorstandes des Gesamtelternbeirats der Heidelberger Schulen - auch und gerade als Folge der PISA-Studie. In diesem Sinne müssen wir Bildung und Erziehung neu als gesellschaftliche Aufgabe begreifen...

Erlauben Sie mir ... im Folgenden kurz noch weitere Schwerpunkte der Heidelberger Politik für das kommende Jahr vorzustellen. (...)

Haushalt 2002
Zur Mobilität hat der Gemeinderat am 26.09. dieses Jahres mit seiner Entscheidung zum Verkehrsentwicklungsplan eine schwierige Diskussion vorerst abgeschlossen. Meine Hoffnungen, dass in den grundsätzlichen Fragen des Verkehrs ein größerer Konsens entstehen könnte, sind nur für einige, leider nicht für alle großen Projekte erfüllt worden. Wir werden die Beschlüsse des Gemeinderates zum Verkehrsentwicklungsplan tatkräftig umsetzen und mit dem Tunnel am Hauptbahnhof zur Herstellung des Platzes zwischen Bahnhof, Heidelberger Druckmaschinen und Konferenz- und Kongresszentrum beginnen.

Zum Ausbau der Straßenbahn hat der Gemeinderat mit deutlicher Mehrheit eine Süderschließung des Neuenheimer Feldes durch eine Straßenbahn bis zum Schwimmbad Tiergartenstraße beschlossen und sich auch für eine Altstadterschließung entschieden. Die Straßenbahn nach Kirchheim wird im Rahmen der Planfeststellung mit der beschlossenen Zentrumsvariante weiter betrieben. Der Gemeinderat hat am 26.09.2001 beschlossen: "Zwischen dem Neuenheimer Feld und Wieblingen ist ein Neckartunnel zu schaffen. Der Neckartunnel soll den Autobahnanschluss Rittel in Wieblingen mit dem Universitätsgebiet Im Neuenheimer Feld verbinden. Die Universität wird aufgefordert, ihr künftiges Verkehrskonzept an die Folgen einer solchen Erschließung anzupassen."

(...) Die Fortschreibung des Wohnungsentwicklungsprogramms steht für das Jahr 2002 an. Für das Programm "Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf - Die soziale Stadt" haben wir nach vergeblichen Versuchen in den Jahren 1999 und 2000, jetzt den Zuschussbescheid des Landes für den Emmertsgrund über 2 Mio. Euro erhalten. (...) Wir werden in diesem Stadtteil in den kommenden Jahren die Qualität in allen Bereichen deutlich verbessern. (...)

(...) Heidelberg kann sich glücklich schätzen, eine Einrichtung wie die Akademie für Ältere zu haben. (...) Der Erfolg der Akademie lässt sich sehr gut in Zahlen ausdrücken. Rund 200 Ehrenamtliche gestalteten mit nur 12 hauptamtlichen Mitarbeitern im Jahr 2001 831 Veranstaltungen. 21.512 Teilnehmerinnen und Teilnehmer nahmen Angebote wie Kurse, Studienreisen, Betriebsbesichtigungen oder Konzerte in Anspruch. Zahlen, die für sich sprechen...

(...) Der Technologiepark Heidelberg steht kurz vor der Vollendung seiner 3. Baustufe. Die Anzahl seiner Firmen wird sich auf rund 60 verdoppeln. Wenn alle neuen Labor- und Büroräume im Neuenheimer Feld bezogen sind, werden rund 1.500 Menschen allein an diesem Standort Beschäftigung finden. (...)

Die Stadt bemüht sich auf vielen Ebenen weiterhin um eine aktive Beschäftigungsförderung. Die bisher schon erfreulich hohe Erfolgsquote bei den Maßnahmen der Hilfe zur Arbeit konnte nochmals deutlich verbessert werden. Wurden 1998 35 Menschen dauerhaft unabhängig von der Sozialhilfe, sind es im Jahr 2000 schon 90. Von 96 Personen, die in Maßnahmen vermittelt wurden, schieden 90 aus der Sozialhilfe aus.

(...) Für das kommende Jahr ist im Sommer ein "Markt der Möglichkeiten" vorgesehen, bei dem viele Organisationen die Möglichkeit haben werden, sich einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren um neue Engagierte zu werben. (...) Die erstmalige Verleihung der Bürgerplakette zur Würdigung durch Gemeinderat und Stadt steht in diesem Jahr bevor und die Einrichtung einer Bürgerstiftung wird gerade vorbereitet. (...)

Es begleiten Sie meine besten Wünsche für das Jahr 2002!"

(Die ungekürzte Rede finden Sie hier als Word-rtf-Format (94K) zum downloaden.)
   
 

OB zur Kritik am Schneeräumdienst

"Aufgabe von Stadtverwaltungen ist es, die im Winter durch Schneefall und Glätte auftretenden Verkehrsbehinderungen im Rahmen der technischen Möglichkeiten und des Zumutbaren zu verringern. Oberste Priorität haben natürlich die Hauptverkehrsstraßen, die Straßen mit ÖPNV, die Zufahrten zu Krankenhäusern und ähnliches. Die Räumarbeiten werden in Heidelberg bei vollem Einsatz von allen gewerblichen Mitarbeitern der Straßenreinigung, des Landschaftsamtes und des Tiefbauamtes erledigt, insgesamt etwa 100 Personen, die von 4 Uhr früh bis mindestens 21 Uhr im Dauereinsatz sind. (...) Ihnen allen sei herzlichen Dank gesagt. (...)
   
 

OB zur Finanzsituation des Karlstorbahnhofs

  "Fatal wäre es, wenn durch Kürzung von Landeszuschüssen der Karlstorbahnhof gefährdet wäre. Wir erwarten, dass das Land ein verlässlicher Partner bleibt, denn die Stadt kann nicht einfach einspringen, wenn von anderer Seite Mittel gekürzt werden."

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"Heidelberg ist sehr gut positioniert"

Auszüge aus der Rede von Dr. Friedrich von Bohlen


Über den Einfluss der Bio- und Gentechnologie auf die Gesellschaft und Kultur sprach der Gastredner des diesjährigen Neujahrsempfang, Dr. Friedrich von Bohlen, Vorstandschef der LION bioscience AG.

Bio- und Gentechnologie haben begonnen, unsere Gesellschaft und Kultur nachhaltig zu verändern", so Dr. von Bohlen. Leben und Gesundheit seien davon betroffen, es gehe " um die Frage: wie kann ich besser länger und länger besser leben?" Allerdings sei Biotechnologie so kompliziert, dass nicht einmal Experten immer verstünden, worüber sie diskutieren. Das allein sei für viele schon beunruhigend genug.

Dennoch werde die Mehrheit die Vorteile wissen und nutzen wollen. "Es ist wichtig, derartig komplexe Themen, die jeden betreffen und berühren, verständlich zu machen", sagte Dr. von Bohlen. Allerdings sei unser Bildungssystem auf derartige umfassende gesellschaftliche Herausforderungen nicht vorbereitet.

"Wir stehen mit der Gentechnologie und anderen anwendungsorientierten Technologien und Entwicklungen vor gewaltigen Veränderungen und Herausforderungen und müssen erkennen, dass wir ...speziell in Deutschland denkbar schlecht auf diese Veränderungen vorbereitet sind." Erst die BioRegio-Initiative 1996/97 habe das Thema ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Heidelberg und das Rhein-Neckar-Dreieck als medizinisch-wissenschaftliches Zentrum hätten zu den Gewinnern des damaligen Konzeptwettbewerbs gehört.

Allerdings sieht von Bohlen noch große Rückstände deutscher Biotechnologiestandorte gegenüber denjenigen in den USA. Die vier bedeutendsten Standorte in Deutschland hätten zusammen rund 1.200 Arbeitsgruppen, die Boston Area in den USA aber allein schon 1.300. "Mittelmaß und Gießkannenprinzip werden aber am Ende alle Standorte gleichermaßen schwächen": Daher brauche es jetzt klare Signale und Aktivitäten aus Berlin und Stuttgart für Heidelberg.

In Deutschland vermisse er eine neue Kultur des Aufbruchs und des Mutes, sagte Dr. von Bohlen. Die Zukunft habe längst begonnen und es läge an uns, "ob wir sie mitgestalten oder ob wir mitgestaltet werden". "Heidelberg ist sehr gut positioniert und hat fast einmalige Chancen, im nationalen und internationalen Konzeptwettbewerb um die besten Köpfe und damit um Innovation, Anerkennung und Wohlstand ganz oben dabei zu sein." Allerdings müsse noch mehr getan werden, um dieses Potenzial wirklich zu nutzen. (neu)

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Stand: 15. Januar 2002