Thema der Woche

Ausgabe Nr. 3 · 19. Januar 2000



Beim Neujahrsempfang der Stadt Heidelberg übernahmen der Kinderchor (im Bild) und der Jugendchor des Theaters der Stadt Heidelberg den musikalischen Programmteil. (Foto: Rothe)






Oberbürgermeisterin
Beate Weber

"Neue Zeiten verlangen nach eigenen Antworten"

Ansprache von Oberbürgermeisterin Beate Weber zum Neujahrsempfang der Stadt Heidelberg


Der Neujahrsempfang der Stadt Heidelberg ist eines der herausragenden gesellschaftlichen Ereignisse in der Stadt. Rund 800 Gäste aus Politik, Wirtschaft, Kirche, Gewerkschaften, von Vereinen, den amerikanischen Streitkräften und anderen Institutionen waren in die Stadthalle gekommen, um die Ansprache der Oberbürgermeisterin und die Neujahrsrede eines Überraschungsgastes zu hören.

Bendiktiner-Abt Franziskus Heeremann vom Stift Neuburg war der diesjährige Überraschungsgast. Die Rede der Oberbürgermeisterin und des Abtes veröffentlichen wir in Auszügen auf dieser Seite und auf Seite 3. Musikalisch umrahmt wurde der Empfang vom Kinder- und Jugendchor des Theaters der Stadt Heidelberg. Als besondere Gäste waren diesmal alle diejenigen eingeladen, die auf irgendeiner Weise das Kulturleben in der Stadt mitgestalten.

Die Ansprache der Oberbürgermeisterin
(...) "Was liegt zu Beginn eines neuen Jahrhunderts näher, als in Zeitungen und Chroniken, die um die Jahrhundertwende 1899/1900 herum in Heidelberg erschienen sind, zu blättern. (...) Heidelberg war um die Jahrhundertwende - wie der offiziellen "Chronik der Stadt" für das Jahr 1900 zu entnehmen ist - "in stetigem Wachstum begriffen"; man zählte über 40.000 Einwohner und verzeichnete eine stetige Zunahme der Finanzen der Stadt "in Einnahme und Ausgabe".

(...) "In der Schönheit der Landschaft, den Vorzügen des Klimas und dem geistigen Leben, das von der Universität ausging, sah man Heidelbergs Kapital für die Zukunft", schreibt Frieder Hepp in der Rhein-Neckar-Zeitung. Heidelberg wollte die bevorzugte und beliebte Wohnstadt bleiben, vor allem für wohlhabende Bürger, Rentiers und Pensionäre. Man nannte Heidelberg um die Jahrhundertwende spöttisch auch "Pensionopolis". (...)

Glücksfall Gadamer
Für die Stadt Heidelberg ist es ein besonderer Glücksfall, dass in der Person Hans-Georg Gadamers die Brücke geschlagen wird über ein ganzes Jahrhundert hinweg. (...) "Hans-Georg Gadamers Rang als einer der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts beruht auf der von ihm entwickelten 'Hermeneutik', aber auch darauf, dass er durch sein langes Leben einer der privilegiertesten Zeugen des 20. Jahrhunderts wurde", schreibt Gadamers Biograf Jean Grondin. (...)

Wir stehen am Beginn eines neuen Jahres, eines neuen Jahrhunderts und eines neuen Jahrtausends. So viel Anfang war in unserem Leben noch nie! Oder anders gesagt. Entweder wir gestalten unsere Zukunft und die unserer Kinder - oder wir alle werden keine Zukunft haben. Wir stehen, nicht allein was den Kalender angeht, am Beginn einer neuen Zeit. Und neue Zeiten verlangen nach eigenen Antworten.

Wir müssen für eine gute Zukunft sorgen! Eine nachhaltige Entwicklung unserer Gesellschaften, auch derer in den Industrieländern des Nordens, ist nur möglich mit einer entsprechenden Entwicklung der Städte. Ohne die aktive Einbeziehung der Städte werden weder die nationale, die europäische, noch die internationale Politik in der Lage sein, das Ziel einer nachhaltigen Entwicklung zu erreichen. (...)

Die Zukunft des Sozialstaates
Die entscheidende Frage ist, ob wir in Zukunft eine Gesellschaft wollen, in der alle Lebensbereiche dem Primat der Ökonomie unterliegen. Oder ob wir eine Gesellschaft wollen, die an Chancengleichheit, an sozialer Gerechtigkeit und an Solidarität und sozialem Ausgleich festhält. Es geht um die Zukunft unseres bewährten und vom Grundgesetz geschützten Sozialstaates, der - so will man uns glauben machen - sich im globalen Wettbewerb nicht mehr aufrecht erhalten lasse, solle die Wirtschaft konkurrenzfähig bleiben. Richtig ist, dass sich der Sozial(versicherungs)staat, wie er aus den gesellschaftlichen Schutzbedürfnissen des 19. Jahrhunderts heraus entstanden ist, strukturell verändern muss. Eine unveränderte Aufrechterhaltung des "alten" Sozialstaates wäre auch keineswegs immer sozial gerecht. (...) Da ein Sozialstaat aber ganz überwiegend nur aus Arbeit finanziert werden kann und da bei uns über fünf Millionen Arbeitsplätze fehlen, ist die Gestaltung der Arbeit (nicht nur Erwerbsarbeit) die allerwichtigste Aufgabe, auch für die Kommunen. (...)

Wir müssen - noch mehr als bisher - stadtteilbezogen arbeiten... In einer neuen Studie mit dem Titel "Überforderte Nachbarschaften" haben zwei renommierte Forschungsinstitute die soziale Erosion in Großsiedlungen untersucht. Das alarmierende Fazit ist: In solchen Stadtquartieren wachsen eine "Kultur der Feindseligkeit bis hin zum Rassismus" und neben "verheimlichter Armut" eine "aggressive Armut" und damit Gewaltbereitschaft.

Gefordert wird daher eine Abkehr von der traditionellen Städtebauförderung hin zu einer "Förderung der sozialen Stadt". Trotz angespannter Haushaltslage hat die Bundesregierung beschlossen, jährlich 100 Millionen Mark für ein Programm "Die soziale Stadt" bereit zu stellen. Mit entsprechenden Komplementärmitteln von Ländern und Gemeinden stehen dann pro Jahr 300 Millionen Mark zur Verfügung. Das Ziel ist, besonders ausgewählte Stadtteile zu stabilisieren... Wir haben uns entschlossen, uns für den Emmertsgrund an diesem Projekt zu beteiligen. (...)

Mit dem neuen "Modell räumlicher Ordnung" hat der Gemeinderat den Weg geebnet für eine ganze Reihe von Veränderungen, die sowohl die Bebauung von Flächen mit Wohnen und Arbeiten als auch das Freihalten für andere Zwecke, die Freizeitgestaltung oder den Umwelt- und Naturschutz betreffen. Eine der wichtigsten Änderungen war dabei die Sicherung von Flächen für die gewerbliche Entwicklung...
Alle Maßnahmen unserer Politik haben sich an den drei Forderungen nachhaltiger Politik zu orientieren. Sie müssen sich der ökonomischen, ökologischen und sozialen Bewertung unterziehen. Wie eng diese miteinander verknüpft sind, zeigen die Folgen des Sturmes, der vor Ende des letzten Jahres über Europa fegte, Wälder und Infrastruktur vernichtete und Schweröl aus dem zerbrochenen Tanker an die Bretagneküste schwemmte. Die "Frankfurter Rundschau" fasste das Problem sehr anschaulich zusammen: "Mit der verfeuerten Ladung der Tanker tragen wir dazu bei, die Stürme zu schaffen, in denen sie auseinander brechen."

Solide Finanzen
Noch im alten Jahr ... habe ich dem neuen Gemeinderat den Entwurf für einen städtischen Haushalt für das Jahr 2000 zur Beschlussfassung vorgelegt. Wenn die allgemeinen Konjunkturrahmenbedingungen so bleiben..., dann ist die finanzielle Lage der Stadt sehr solide. Der allseits begrüßte Rechenschaftsbericht für das Jahr 1998 zeigte, dass wir unsere allgemeinen Rücklagen um 14 Millionen Mark auf 55,2 Millionen Mark aufstocken konnten. Damit haben wir ein gutes Finanzpolster für die kommenden Jahre. Besonders stolz können wir auf die vergleichsweise niedrige Pro-Kopf-Verschuldung sein. Mit 1.532 Mark/Einwohner liegt Heidelberg weiterhin am unteren Ende der Schuldenskala der Städte sowohl in Baden-Württemberg als auch in Deutschland. Also kann man auch hier von einer zukunftsfähigen Entwicklung sprechen.

Kulturelles Zentrum
Heidelberg ist seit Jahrhunderten das kulturelle Zentrum der Kurpfalz. Seit gut zwei Jahrhunderten hat sich unser kulturelles Leben aus der Abhängigkeit der kurfürstlichen Obrigkeit befreit. Kunst und Kultur sind ein wichtiger Ausdruck von bürgerlichem Selbstbewusstsein und demokratischer Selbstbehauptung geworden.

Unsere Stadt bietet ein vielfältiges traditionelles Kulturangebot und sie ist inzwischen zugleich Ort für eine junge und moderne Kulturszene. Tradition trifft Zukunft. Gerade diese Spannung ist es, die den besonderen Reiz und Reichtum Heidelbergs ausmacht...

Das ist der Vorzug des jungen Heidelberg, dass sich schnell Ensembles und Gruppen zusammenfinden, die Bewährtes erhalten und Neues erproben wollen. Kaum beachtet wird, dass Heidelberg die Avantgarde der elektronischen Musik beherbergt und inzwischen einen guten Ruf bei den neuen Medien hat. (...)

Die Aufgabe des Gemeinderates und der Verwaltung ist es, immer wieder die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen und Ziele zu beschließen, damit sich ein lebendiges Kulturleben entfalten kann. Es muss unser Ziel sein, das kulturelle Angebot, das dem Bedarf der Bürgerinnen und Bürger entspricht und zu Heidelberg passt, zu sichern und erweitern, auch als Gegengewicht zur Medienüberflutung. (...)

Unser Ziel muss sein, mit bürgernaher und effizienter Verwaltung das demokratische Bewusstsein in der Gesellschaft immer wieder zu verwurzeln. Dass diese Verwurzelung dringend notwendig ist, zeigen die enttäuschten und wütenden Reaktionen gegen "die Politiker", die in diesen Tagen und Wochen immer wieder zu vernehmen sind.

Ich danke allen sehr herzlich, die meine Arbeit und die des Gemeinderates und der Verwaltung im vergangenen Jahr mit Kritik und Ermunterung begleitet haben und würde mich natürlich sehr freuen, wenn sich diese Zusammenarbeit zum Wohle der Stadt und ihrer Bürgerinnen und Bürger auch im neuen Jahr 2000 fortsetzen könnte.

Ich wünsche Ihnen alles erdenklich Gute!

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Abt Franziskus Heeremann

"Es gibt Menschen, die hinschauen"

Auszüge aus der Neujahrsrede von Abt Franziskus Heeremann


Er sei geehrt und erfreut gewesen, als er die Einladung erhalten habe, die Neujahrsansprache zu übernehmen, begann Abt Franziskus Heeremann vom Stift Neuburg seine Rede. Doch lange habe er nicht gewusst, über was er sprechen solle. Daher wolle er eine Geschichte erzählen.

Er habe einen Brief von einer älteren Dame erhalten, berichtete der Abt, in dem eine Broschüre beigelegt war, aus der hervorging, dass es in seinem Heimatort Misburg bei Hannover ein Konzentrationslager gegeben hätte: "Bis zu meinem 54. Lebensjahr habe ich noch nie etwas von einem KZ in Misburg gehört", gestand er. "Ich weiß nicht ob Sie sich vorstellen können, wie das ist, wenn man mit 53 erfährt, dass man quasi im Schatten eines ehemaligen KZs aufgewachsen ist... Mein Vater muss den Häftlingen ... täglich begegnet sein, und doch hat er nicht darüber gesprochen.

(...) Mein Vater ist vor neun Jahren gestorben. Ich würde ihn gern fragen, warum er nie etwas über das Misburger KZ erzählt hat. Was muss in ihm vorgegangen sein, dass er dieses Kapitel seiner Geschichte so vollständig ausgeblendet hat. Dabei ist wichtig zu wissen, dass mein Vater absolut kein Nazi war... Dennoch hat er nicht geredet. Und nicht nur mein Vater hat geschwiegen. Kein Lehrer und Pfarrer hat etwas gesagt ... War es irgendeine Form von Scham, die die Lippen verschlossen hat?... Oder war es eine Art seelische Selbstverteidigung, das Schreckliche zu verdrängen...

(...) Wir müssen mit dieser Wahrnehmungsblockierung in uns rechnen. Wir müssen damit rechnen, dass es Situationen gibt von Not und Tragik, die zu groß für uns sind....

(...) Fragen wir uns: Was sehe ich in meiner Nähe an menschlicher Not und lasse es nicht an mich heran? Was nehme ich als einzelner wahr, obwohl es vielleicht ganz augenscheinlich ist? Wo verschließen wir auch als Volk unsere Augen vor Problemen, die zu groß sind?...

(...) Es gibt durchaus Menschen, die hinschauen, die sich nicht beschwichtigen lassen... Das sind immer Leute, die die Schwelle der Verdrängung überwunden haben und hinschauen... Auf jeden Fall gibt es sie: diese Menschen, die auch dann nicht an der Not des anderen vorbeigehen, wenn sie schier zu groß erscheint, sondern den ersten Schritt zur Hilfe tun. Zu ihnen würde ich gerne gehören; und das wünsche ich Ihnen auch."

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Stand: 18. Januar 2000